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Verkürzte Wartezeit

Geophysik. - Drei Menschen starben am Ostersonntag bei einem Beben der Stärke 7,2, das das Grenzgebiet zwischen Kalifornien und Mexiko erschüttert hat. Das jüngste Beben war für Südkalifornien eine Warnung: Dort wartet man auf "The Big One", das ganz große. Doch die Modelle, auf denen die Risikoabschätzungen bislang beruhten, müssen möglicherweise korrigiert werden.

Von Dagmar Röhrlich | 07.04.2010
    Karg und baumlos ist die Carrizo-Ebene: Es ist der letzte Rest des kargen Graslandes, das einmal weite Teile Kaliforniens bedeckt hat. Es sei die Landschaft des Wilden Westens, schwärmt die Geologin Lisa Grant-Ludwig von der Universität von Kalifornien in Irvine. Sie fährt regelmäßig dorthin - allerdings nicht, um sich an die Zeiten des Goldrauschs zu erinnern:

    "Ich arbeite an der San-Andreas-Verwerfung, an der die Pazifische und die Nordamerikanische Platte aneinander vorbei rutschen und an der immer wieder große Erdbeben entstehen. Die Verwerfung lässt sich dort sehr gut untersuchen, denn die Landschaft ist noch ursprünglich: Es gibt nur Tiere und offenes Land."

    Wie eine Furche zieht sich die Verwerfung durch die Ebene. Dabei wird sie immer wieder von mehr oder weniger tiefen, ausgetrockneten Flussbetten gekreuzt, durch die bei schweren Regenfällen das Wasser in Sturzbächen aus den Bergen rauscht.

    "Wenn die Erde bebt, werden diese Flussbetten an der Verwerfung gegeneinander versetzt. Das erkennt man daran, dass ihr Verlauf abknickt. Wenn wir in diesen Bereichen Gräben ziehen und sie genau untersuchen, bekommen wir eine Vorstellung davon, was bei den Beben passiert ist."

    Damit wiederum lässt sich das Erdbebenrisiko einer Region besser abschätzen. Olaf Zielke von der Arizona State University in Tempe:

    "Die Störungsstruktur ist dort sehr einfach, sodass man, was man sieht, auch verstehen kann."

    Weil alles so einfach erschien, wurden anhand der Carrizo-Ebene und eines ähnlichen Gebiets in Utah Modellrechnungen für die Vorhersage des Erdbebenrisikos weltweit entwickelt. Also mit welcher Wahrscheinlichkeit die Erde an einer bestimmten Störung mit einer bestimmten Stärke bebt. Das Ganze beruht auf folgender Annahme:

    "Der Versatz in den Flussbetten wurde so interpretiert, dass am 9. Januar 1857 in der Carrizo-Ebene ein großes Erdbeben die beiden Seiten der San Andreas Verwerfung um zehn Meter gegeneinander versetzt hat. Weil man aus Beobachtungen weiß, dass sich dort die Platten mit 35 Millimetern pro Jahr gegeneinander bewegen, müsste sich ein solches Beben etwa alle 250 bis 450 Jahre wiederholen."

    Die Annahme dahinter: An einer Störung gibt es so etwas wie Regeln. Für die Carrizo-Ebene wäre danach ein großes Beben alle 250 bis 450 Jahre typisch. Als sich nun die Arbeitsgruppe um Lisa Grant Ludwig die Erdbebenhistorie der Region mit Hilfe von Gräben, absoluten Altersdatierungen und Satellitendaten genau anschaute, fanden sie etwas anderes:

    "Die Analyse zeigt uns, dass beispielsweise diese zehn Meter Versatz nicht allein durch das große Beben von 1857 entstanden sind, vielmehr waren zwei Beben beteiligt: das von 1857 und ein früheres von 1812. Außerdem hat es seit 1200 fünf weitere Beben gegeben, die zusammen noch weitere fünf Meter Versatz bringen."

    Bei den einzelnen Beben war der Versatz zwar geringer - aber dafür hat es sehr viel mehr gegeben als gedacht. Rein rechnerisch kommt man auf ein schweres Beben alle 80 Jahre. Während nach der alten Abschätzung mindestens 100 Jahre Zeit bis zum nächsten Ereignis wären, legen die neuen Analysen nahe, so Olaf Zielke,

    "dass dort bald wieder ein Größeres passieren könnte. Man muss das immer mit Vorsicht genießen, weil man noch immer sehr weit entfernt ist von einer ordentlichen Bebenvorhersage, aber die Wahrscheinlichkeit, kann man sagen, ist jetzt deutlich größer als vorher angenommen wurde."

    Anscheinend gibt es in der Carrizo-Ebene Erdbebenserien mit längeren Ruhepausen dazwischen: Und ob die San-Andreas-Verwerfung gerade ruht oder bald reißt, ist offen. Dieses neue Bild ist viel komplizierter als das klassische mit den einfachen Zeitintervallen, und das hat Konsequenzen für die weltweit eingesetzten Modellrechnungen: Die derzeitigen Risikoanalysen könnten mit Bebenserien und Ruhepausen nicht umgehen, erklärt Lisa Grant-Ludwig. Damit hat sie die Diskussion eröffnet, ob die Risikoabschätzungen nicht modifiziert werden müssen.