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Verlegene Existenzen

Nach ihrem viel gelobten Debüt "Gesichertes" ist mit "Geschwisterkinder" die neue Erzählung von Hanna Lemke erschienen. Die 1981 geborene Autorin zeichnet in dunklen Pastellfarben das Stillleben zweier Geschwister, die von Angst, Unsicherheit und Antriebslosigkeit bestimmt sind.

Von Sabine Peters | 27.07.2012
    Die Beziehungen zwischen Geschwistern sind ein spannendes Thema, das leider angesichts der Aufmerksamkeit für Eltern-Kind-Konflikte oft in den Hintergrund gerät. Trotzdem gibt es seit dem alttestamentarischen Bericht darüber, wie Kain den Abel erschlug, immer wieder literarische Versuche, Geschwisterkonstellationen in den Blick zu nehmen. Entsprechend erwartungsfroh liest man den Titel von Hanna Lemkes Erzählung, "Geschwisterkinder". Hanna Lemke, Jahrgang 1981, studierte am Literaturinstitut in Leipzig, und ihr Debüt "Gesichertes" wurde fast einhellig gelobt, nicht zuletzt, weil sie das Lebensgefühl ihrer Generation erfasse. In diesem Buch begegneten einem reichlich unsichere, indifferente Figuren, und mit entsprechenden Gestalten hat man es auch in der neuen Erzählung zu tun.

    "Geschwisterkinder": Der gelernte Fotograf Ritschie arbeitet in einer Redaktion, seine Schwester Millie jobbt in einem Spielwarenladen; sie sehen sich nicht allzu oft. Zwei normal nette, unscheinbare Existenzen, denen die Welt allerdings ziemlich egal ist, und sie nehmen sich auch selbst nicht ernst. Ritschie lässt sich kurzfristig mit der Praktikantin Fabienne ein - weil die das so will. Und für Millie sind Einschlafstörungen ein Grund, mit Simon zu schlafen. Als die Geschwister zur Hochzeit von flüchtigen Bekannten eingeladen werden und sich ein alter Familienfreund zu Besuch anmeldet, kommen sie einander näher, und sie stellen sich die große oder kleine Frage "wie geht's dir".

    Es ist enttäuschend, dass es in Lemkes Erzählung kaum um die doch jeweils ganz besonderen Beziehungen unter Geschwistern geht; also: gegenseitige Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Eltern, dann aber auch Solidarität gegenüber deren Zumutungen. Oder die besonderen Rollen, die Vor- und Nachteile des Ältesten und des Nesthakens. Oder das Fortbestehen alter Konflikte noch unter den erwachsenen Geschwistern ... Um solche Konstellationen geht es hier nur am Rand. Die wenigen Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse aus der Kindheit wirken bis auf eine Ausnahme beliebig und führen allenfalls zu der abstrakten Einsicht, dass Erinnerungen konstruiert sind. Streng genommen könnten Lemkes Gestalten auch Freunde sein.

    Und was erfährt man über das Lebensgefühl der beiden jungen Erwachsenen? Die Antwort "alles in Ordnung" wandelt sich peu à peu in das Eingeständnis, dass sie beide von Angst, Unsicherheit und Antriebslosigkeit bestimmt sind. Das Leben ist ein mehr oder weniger vereinsamtes Warten - worauf? Auf nichts. Hanna Lemke bietet für diese Phänomene keine psychologischen oder politisch-soziologischen Erklärungen wie "das Unbehagen an der Kultur" oder "Entfremdung". Vielmehr führt sie diese Phänomene vor, und auf der Mikroebene gelingt ihr das überzeugend. Es gibt Sätze und Absätze in dieser Erzählung, die wie fein gestrichelte Miniaturen wirken; da gewinnen die Gedankenblitze der Geschwister einen schrägen, teilweise auch unheimlichen Reiz. Schon als Kinder hatten beide das Gefühl, in ihrem Inneren stecke eine Maschine, die stellvertretend alles Reden und Handeln für sie übernehmen würde. Und solange die funktionierte, war eben alles in Ordnung. Auch andere Zeitgenossen sind vermutlich gar nicht wirklich da - wenn etwa der Onkel plötzlich grundlos seufzt, macht er das wohl nur, um sich zu vergewissern, dass er vielleicht doch vorhanden ist.

    Solche Details machen den spröden Reiz der Erzählung aus - aber die Figuren selbst kommen einem nicht nahe, und das sollen sie vermutlich auch nicht; so gefangen sind sie in einer nebelhaften, umfassenden Verlegenheit. Dieses Wort taucht bei Lemke mehrfach auf; etymologisch gesehen bedeutet es "durch Liegen Schaden nehmen, in Trägheit versinken". Das befangene, passive Verhältnis zu sich selbst und zur Welt - soll man das als repräsentativ für "die" junge Generation ansehen? Dabei ist Hanna Lemke so wenig verpflichtet, gleich zur Stimme ihrer Generation zu werden, wie Autoren überhaupt Kollektive vertreten müssen, etwa als "Stimme der Nation".

    Möglicherweise wird man dem Buch eher gerecht, wenn man es als existenzialistisch gefärbte Parabel über die stillstehende, sinnentleerte Existenz des Menschen an sich liest. Trotzdem: Eine auf 140 Seiten ausgebreitete ungebrochene Zustandsbeschreibung von Lähmung und Perspektivlosigkeit gibt nicht allzu viel her, und diese Mitteilung wird durch die milde, affirmative Sprache noch bestätigt und verstärkt.

    Blochs Formulierung "Ich bin. Aber ich habe mich noch nicht. Darum werden wir erst" umschrieb das Streben nach einer nicht konkret zu definierenden, noch nicht "herausgekommenen" Verwirklichung der Menschen. Dieses Prinzip Hoffnung spielt für die beiden monadenhaft einsamen Individuen bei Lemke keine Rolle, erst in den letzten vier Zeilen des Buchs mag ein Hauch solcher Hoffnung herumschweben. Da überlegt Millie, wie es wohl wäre, wenn ihr Bruder und sie "ins Bild gingen", und man kann sich das immerhin übersetzen als die Frage, wann diese beiden Gestalten ohne Motor und Motive sich selbst "anfangen".

    "Geschwisterkinder" ist eine Art Nature morte, ein Stillleben in dunklen Pastellfarben, leicht melancholisch. Eine stille, unaufdringliche Erzählung, die zwar hier und jetzt spielt und die dabei doch jenseits von "Welt" zu liegen scheint.

    Hanna Lemke: "Geschwisterkinder". Erzählung. Kunstmann-Verlag, 143 S., 14,95 Euro