Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Verloren auf dem Asphalt

Maggot sagte, wir sollten zum Times Square gehen und dort auf zwölf Uhr warten, da könnten wir bestimmt ein paar Leute beklauen, aber so weit sind wir gar nicht erst gekommen.

Jonathan Shelliem | 28.02.2004
    Silvester in New York, obwohl die feuchte Kälte durch verlassene Seitenstraßen zieht, beginnt der Roman beinahe verheißungsvoll. Noch sind die Kinder guten Mutes, wettern über die Spießer, die sich in ihre Waben zurückgezogen haben. Das Leben auf der Straße erscheint als Alternative zum Alltagstrott der Roboter, wie ihr Anführer Maggot sagt.

    Wir, also Maggot, Rainbow, 2Moro und ich, wir hingen wie immer vor dem Good Life rum.
    Spätestens nach dem ersten Überfall, der jämmerlich missglückt werden die wirklichen Kräfteverhältnisse zurechtgerückt. Die vier wollen einen Betrunkenen berauben. Der Überfall missglückt. Wie viele Straßenkinder können einen Erwachsenen überwältigen? Die Gang nimmt, was sie an Münzen hingeworfen kriegt. Sie sind zu acht und Maybe, die Erzählerin, das Mädchen mit dem Abdruck eines Bügeleisens auf dem Rücken macht sich keine Illusionen, als der erste aus der Clique stirbt. Drei weitere werden folgen

    ”Mir frieren gleich die Ohren ab. Können wir nicht irgendwo reingehen ?” Tears legte die Hände auf die Ohren, um sie zu wärmen.
    ”Wo denn ?”, fragte ich.
    ”Keine Ahnung. Vielleicht finden wir ein Auto, das nicht abgeschlossen ist.”
    ”Nichts da”, sagte ich. ”Wenn Leute dich in ihrem Auto finden, schlagen sie dich grün und blau.”


    Sie sind zu acht, sie suchen eine Nische für den Clan der Kids, um auf der Straße zu überleben. Rainbow, die an der Nadel hängt und sich dafür prostituiert, 2Morrow und Jewel, die zwischen Strich und Discothek, zwischen Niedergeschlagenheit und Allmachtsphantasien wechseln , OG und sein magerer kleiner Hund, den er Pest nennt, Tears, die stets weint und Maybe, die sich nicht entscheiden kann. Der Autor hat in Kinderheimen und Nachtasylen recherchiert, er hält sich an die Fakten, bleibt stets konkret, er leuchtet die Facetten des kindlichen Obdachlosenlebens aus. Todd Strasser alias Morton Rhue

    Alles hat damit angefangen, dass ich in Denver / Colorado einen Vortrag gehalten habe und meine Gastgeberin mich fragte, ob ich einverstanden sei, auf dem Weg zum Flughafen an einem Heim für obdachlose Kinder vorbeizufahren, weil sie ihnen Essen bringen wollte. Ich ging mit in das Haus hinein und war verblüfft: dort sah ich eine Gruppe, die lethargisch in einem Raum verteilt vor dem Fernseher saß und stank. Und das verstand ich nicht. In diesem Haus hat es Duschen gegeben, Waschmaschinen gab es auch, und doch roch es sehr streng nach Schweiß, die meisten hatten verfilzte Haare, die Kleider waren schmutzig. Hatten sich die Jugendlichen aufgegeben oder war das die Uniform der Kinder auf der Straße? Nach New York zurückgekehrt begann ich dem nachzugehen.

    Schon vor zwanzig Jahren hatte sich der ehemalige Journalist und Straßenmusiker für die Dynamik subkultureller Systeme interessiert. Die Welle hieß 1981 seine mehrstimmiger Jugendroman, der die Entwicklung faschistoider Strukturen in einer demokratischen Gemeinschaft beschrieb. Ich knall euch alle ab, in seinem zweiten Arbeit 2002 ging es um Ausgrenzung und Amoklauf. Auf zwei Schulbühnen wird die Premiere seines Plots derzeit in der Bundesrepublik geprobt. Gradliniger dagegen, mit nur einer Erzählerin, hat Morton Rhue die Geschichte der New Yorker Straßenkinder angelegt, beschreibt er die Auflösung dieser Kinderbande, die auf der ersten Seite beginnt.

    Für Straßenkinder habe ich das Buch nicht geschrieben. Ich erwarte nicht, dass Obdachlose ihre erbettelten Einnahmen für mein Buch ausgeben. Sie werden sich Essen kaufen oder Drogen oder Alkohol. Das Buch schrieb ich für diejenigen Kinder, die mit dem Gedanken spielen, von zuhause wegzulaufen. Für Kinder, die mit ihren Eltern nicht klar kommen, die ihre Eltern hassen, die schlechte Eltern haben und die darüber nachdenken, ob es nicht cool wäre, ganz einfach wegzulaufen und sich auf der Straße ganz alleine durchzuschlagen. Denen will ich sagen, es ist nicht cool, auch wenn es romantisch und aufregend erscheint, dieser Glanz blättert schnell ab, die Grausamkeit des Lebens auf der Straße stellt sich dann heraus. Kinder können auf der Straße nicht überleben. Wenn sie nicht an Krankheiten sterben, töten sie die Drogen.

    Die Härte des Jugendromans ergibt sich nicht aus der Impertinenz der Straßenkinder. Der Missbrauch der Kinder durch Clubbesucher, die die Väter der Mädchen sein könnten, die sie sich mit List und Droge gefügig machen wollen, erzeugt beim Lesen Wut. Der Autor aber wahrt stets seine Contenence, immer sehen wir das, was passiert mit dem Blick von Maybe, der jungen Erzählerin. Den sexuellen Preis des kindlichen Traums vom leichten nächtlichen Leben beschreibt der Autor nicht.

    All meine Bücher beschreiben die Wirklichkeit. Auch wenn ich mir die Geschichte und die Charaktere ausdenke, sechs oder sieben Obdachlose, die ich kennenlerne in einer Figur zusammenfasse, beschreibe ich die Wirklichkeit, das was geschieht, heute und hier. Da leben obdachlose Kinder wirklich in verlassenen Gebäuden, trinken die ganze Nacht Kaffee, um wach zu bleiben, weil es gefährlicher ist bei Nacht zu schlafen, als am Tag. All diese Szenen aus meinem Roman basieren auf meinen Recherchen in New York.

    Und doch ist es kein didaktischer Roman, wohl harter Tobak, die Authentizität der Stimmen und des Plot ist sinnlich wahrnehmbar und auch der Lektor des Verlages hat eine gute Arbeit abgeliefert, da ist kein Wort im Text zuviel. Und wie der Abgesang der Obdachlosen Kinderbande endet, das wird manchen verblüffen. Ach ja, das Original in Morton Rhues US-Verlag erscheint erst im April, während die Ravensburger Übersetzung von Werner Schmitz mit einem Vorwort von Doris Schröder-Köpf bereits zu lesen ist. Ein packendes Vergnügung und ein lehrreicher Gang durch die zugigen Straßen von New York. Und 50 cent pro Band gehen in die Sozialarbeit des deutschen Vereines Off-Road Kids.

    Morton Rhue
    Ich knall euch alle ab
    Ravensburger, 159 S., EUR 4,95