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Verlorene Generation

"Wir sind Zwillinge und uns äußerlich so ähnlich, dass einer für den anderen durchgehen kann", stellt der Erzähler fest, doch innerlich sind die beiden ziemlich gegensätzlich. Während der eine in der heilen und wohlhabenden Welt der Großeltern – Grundbesitzer und steinreich – aufwachsen durfte, musste der andere bei den Eltern in Waldau, einem heruntergekommenen Stadtteil von Kassel, versauern. Auf der Geburtstagsfeier des Großvaters in Bad Herrenalp treffen sie nach langer Zeit wieder aufeinander. Kaiman fährt mit einem Porsche vor. "Ihm gehört alles" – mit diesem Satz endet der Roman. Wer aber ist der Erzähler? Was wäre er ohne den Bruder?

Von Detlef Grumbach | 26.01.2004
    Der reiche Bruder hat die Spielräume des Großvaters und der andere Bruder hat die Spielräume der Eltern, die eben diesem Waldauer Zuschnitt entsprechen. Das ist eine Plattenbausiedlung vor Kassel – erst als ich das erste Mal in der aufgelassenen DDR war, habe ich gesehen, wo ich herkomme, da gibt es das ja massenhaft. Und ich glaube nicht, dass er ein von den dort herrschenden Normen besonders stark abweichendes Repertoire hat. Also er ist nicht exotisch. Er fällt noch nicht einmal in seiner Regungslosigkeit besonders auf. Ich glaube, dass viele Leute ihr Leben nur so verzehren können wie der Bürger sein Schnitzel am Sonntag zu Mittag. Wenn man dahinter guckt, sind es doch hauptsächlich die Zwänge, die Existenzen regieren. Und da geht es doch wohl wahrscheinlich nur darum, zu welchen Konditionen man das durchsteht, also mit besseren Getränken oder mit Büchsenbier.

    Auf der einen Seite, kaum ausgeführt, eher wie eine Projektionsfläche im Kopf des Erzählers herumspukend, der Lebemann, dem die Welt offen steht, auf der anderen Seite der Versager, dem nichts blieb als die Haltung des Zuschauers, des Beobachters, der das Leben nur von außen kennt, aus zweiter Hand. "Ich betrachte die letzten zwanzig Jahre meines Lebens wie eine Fläche, die ich nicht mehr betreten kann", auf diesen Nenner bringt der Erzähler lapidar, mit genauem Blick und deutlichem Hang zur Pose die Erfahrungen, die er seit der Pubertät gesammelt hat und die ihn zum Beobachter, zum Chronisten haben werden lassen. Tuschick:

    Na ja ich glaube, man muss zunächst die Umgebung ins Auge fassen, das war ja die Zeit der antiautoritären Bewegung. Um ihn herum ist viel Bewegung gewesen, nur in seinem Leben hat sie nicht stattgefunden. Ich habe den Eindruck, er sitzt es aus. Er hält durch. Nach Rilke: Wer spricht von siegen – überstehen ist alles. Er nennt ja dieses Verfahren "Abfall des Vollzugs": Andere erleben etwas, er beobachtet das und schreibt es auf. Das ist seine Art, Anteil zu nehmen. Darauf hat er sich spezialisiert. Er lebt sozusagen in den Beobachtungen anderer Leute, ihre Taten werden zu seinen Erlebnissen.

    Bis zum Ende der B-Seite – so lautet der Titel des Romans, mit dem Tuschick an die beiden vorangegangenen Bücher – Keine große Geschichte und Kattenbeat – anschließt, mit dem er seine vor allem an die Provinz gebundene Chronik seiner Herkunft fortsetzt. "Ich war noch voll am Arsch meiner Kindheit und stand bis zum Hals im Schlamm meiner Unsicherheit", oder im "Schlick jugendlicher Untüchtigkeit", wie es ein andermal heißt – so beschreibt der Erzähler den Punkt im Leben, an dem andere erwachsen werden. Er war eben nicht so wie Lord und die anderen – wie es heißt – "Siedlungstrizzis, die ihre Haare so trugen wie Marc Bolan oder die Musiker von Slade", er gehörte nicht zu denen, die den Mädchen imponierten.

    Diese Kindheit in Waldau, in dieser Plattenbausiedlung, hat mich wahrscheinlich traumatisiert. Und offensichtlich muss ich mich länger als ein halbes Leben daran abarbeiten und ich fange immer wieder von vorne an, das zu erzählen. Ich war letztes Jahr Schulschreiber an meiner Grundschule, habe mir das alles noch einmal angeguckt, bin dann wieder durch Waldau gegangen, auch abends, habe die Kneipen aufgesucht und habe diesem alten Gefühl nachgespürt, das mich damals da so in andauernder Unzufriedenheit gehalten hat. Ich glaube, dass ich diese Unzufriedenheit zunächst dadurch abgewehrt habe durch Übertreibungen, wie in "Keine große Geschichte", wo die Leute eben alles können, Rockmusiker sind, Motorräder fahren, mit Drogen handeln, Gewalttaten verüben, die schönsten Frauen um sich versammeln, während das ja hier wieder eindeutig dichter an den Tatsachen ist.

    In einem etwa ein Viertel des Buches umfassenden ersten Kapitel entwirft er Bilder dieser Kindheit, die dem Leser zeigen, wie der Erzähler so geworden ist, wie er ist. Keine chronologische Geschichte, keine Lebenserfahrung eins zu eins, sondern Erinnerungsfetzen und Assoziationen, die um Themen und Motive ranken wie Versagen, Impotenz und Mädchen – trotz alledem, Mädchen allerdings, die nur den Eindruck erweckten, dass sie mit ihm gingen, die alle einen anderen, einen richtigen Freund hatten und nebenbei mit ihm spielten, am Ende nur seine Unterlegenheitsgefühle streichelten.

    Dann, im Hauptteil des Romans, steigen die beiden Brüder von der Geburtstagsfeier in den Porsche, fahren los, brechen auf zu einer gemeinsamen Fahrt durch ihr Leben. Die Fahrt von Bad Herrenalp nach Frankfurt, Göttingen und Kassel verleiht dem Dickicht der Gedanken und Gefühle zumindest die Ahnung einer Struktur. Orte, Namen und Begegnungen lösen Erinnerungen aus, die den Erzähler eher plagen, verfolgen, treiben, als dass er ihnen nachgeht. Einzelne Episoden knüpfen an die Kindheitsgeschichten an, und immer stärker kristallisiert sich einen große Liebesgeschichte heraus: Die Liebe des Erzählers zur Frau seines Bruders.

    Wie eine Langspielplatte in den unterschiedlichsten Klangfarben Variationen auf ein Thema bringt, erzählt Tuschick die Geschichte eines Taugenichts, der irgendwo zwischen den Fernsehbildern der Achtundsechziger-Rebellion und den Schleiflackmöbeln seines Kinderzimmers den Anschluss verpasst hat, der, melancholisch, aber ohne Neidgefühle, bis in seine Liebesbeziehungen ein Trittbrettfahrer des Lebens geblieben ist. Er schreibt um sein Leben – und in diesem Punkt sind sich der Autor und seine Figur durchaus wieder sehr ähnlich:

    Es ist einfach das Medium, über das sie sich herstellen. Also sie zerfallen meinetwegen nachts und stellen sich tags schreibend wieder her. Das sind die Prothesen und Krücken, die sie sich bauen, und es ist eben eine Chance zur andauernden Selbstvergewisserung, die sie offensichtlich nötiger haben als andere Leute.

    Jamal Tuschick
    Bis zum Ende der B-Seite
    Suhrkamp, 185 S., EUR 9,-