Dienstag, 16. April 2024

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Verlorene Unschuld

Sie sind unter uns! Der Buchhändler um die Ecke kann es sein, der unauffällige Beamte im auswärtigen Amt, der Freund der Familie, der nette Angestellte im Theaterfoyer. Das nächste Mal werde ich in jenem Opernhaus genauer hinschauen, wen der nette Mann durch die Tapetentür lotst. Allerdings: Mir wird er den geheimnisvollen Wink nicht geben, denn er ist nur an Männern interessiert. Es geht um Homosexualität in Andreas Marbers Erzählungen über die "Verlorene Unschuld". Aber es sind nicht einfach nur schwule Beziehungsgeschichten, sondern Geschichten aus der verborgenen Welt der heimlichen Kontakte zwischen Homosexuellen, von der die simpel gestrickten Heteros kaum etwas ahnen. Aus der Not der verbotenen Lüste ist anscheinend eine raffinierte erotische Kultur hervorgegangen, die voll Überraschungen steckt.

Eva Pfister | 09.12.2002
    So kann es einem braven Redakteur, vom Ressort Politik, passieren, dass ihm für eine höchst nachgefragte Vorstellung von "Tristan und Isolde" eine Gratiskarte angeboten wird - zu allerdings seltsamen Bedingungen. Und wie im Märchen geht die Geschichte weiter: Nachdem der Opernfreund seine Aufgabe erledigt hat - und zwar, wie er meint, durchaus konzentriert und diszipliniert - beglückt ihn die schwule Fee mit einem Platz im Ersten Rang, Mitte. Seither pflegt er dort zu sitzen, und resümiert: "Na und. Ich bin, was meinen Sitzplatz in der Staatsoper angeht, auf eine Weise schamlos geworden, die mich selbst überrascht."

    Bisher ist Andreas Marber vor allem als Dramatiker in Erscheinung getreten, mit bösen Stücken wie "Die Lügen der Papageien", einer Satire auf den Theaterbetrieb, oder "Die Nazisirene", einem absolut nicht nostalgischen Stück über Zarah Leander. Die satirische Ader verleugnet der Autor auch in seinen schwulen Geschichten nicht, ebenso wenig wie sein Theaterblut. Die fünf Erzählungen sind allesamt in Rollenprosa abgefasst, und die Ich-Erzähler outen ihren Charakter oft gleich in den ersten Sätzen. Etwa der Mann vom Auswärtigen Amt: (Zitat) "Ein Liebhaber hat mir einmal gesagt, für einen Beamten hätte ich noch ziemlich viel Humor. Wir haben uns dann nicht mehr gesehen."

    Es sind tatsächlich meist unauffällige, eher biedere Männer, die in den Geschichten ihre Unschuld verlieren. Der arme Held der Titelgeschichte lässt sich so tollpatschig überrumpeln, wie Biedermann sich sein Haus anstecken lässt, aus Neugierde und Koketterie. Immerhin hat es ihn ein bisschen gekränkt, dass der Freund, der ihm nach vielen Jahren seine Homosexualität gesteht, nie an ihm interessiert war.

    Andere Figuren sind deutlich einem sexuellen Begehren verfallen, wie der Kunstgeschichtler, der einer leibhaftigen Wiedergeburt einer antiken Statue begegnet, - oder es ereilt sie sogar eine lebenslange Liebe, wie es ausgerechnet dem humorlosen Beamten geschieht.

    Höhepunkt des Erzählbandes ist die Geschichte mit dem schönen Titel: "Auf den Altären des oberschwäbischen Barock", - ein wunderbarer Monolog, der sicher bald den Weg auf eine Theaterbühne finden wird. Ein alt68er Buchhändler trifft in Leipzig auf einen Kollegen, dessen Augen aufleuchten, als er hört, dass sein Gast aus Biberach kommt. Plötzlich ist der naive Buchhändler ein Held, nur weil er aus Biberach stammt. Und es dauert, bis er die Zusammenhänge kapiert. Biberach ist nämlich die Stadt, in der Christoph Martin Wieland die allerersten deutschen Shakespeare-Übersetzungen verfasst und aufgeführt hat. Nun will der Leipziger Wieland-Freund vom Biberacher Buchhändler Verse aus Shakespeare-Stücken auf schwäbisch hören, damit er sich den authentischen Sound dieser Wieland-Übersetzungen vorstellen kann. Seine Begeisterung wächst mit jedem schwäbischen Zitat, es ist ein gelungener Abend in Auerbachs Keller. Zum ersten Mal ist der Buchhändler wirklich stolz auf sich, und der Kollege aus Leipzig wird natürlich die Liebe seines Lebens - wenn es auch noch etwas dauert. Das barock ausgeschmückte Happy End spielt sich schließlich zwischen zwei Greisen ab, ist aber nichts desto trotz ein hinreißendes Stück erotischer Prosa.

    Bei aller Komik ist in den Erzählungen ein ernster Unterton nicht zu überlesen. Die Männer in den Geschichten sind nicht mehr jung und unbeschwert, das macht ihre Erlebnisse existenziell. Es geht meist um versäumte oder gerade noch erwischte Gelegenheiten. Letzte Chancen, die Unschuld zu verlieren - oder das Liebe zu leben.