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Verlorenes Lautrepertoire

Um die Geschichte von Sprache, von Lauten, Worten und Idiomen geht es in Daniel Heller-Roazens einundzwanzig Essays, herausgegeben unter dem Titel "Echolalien". Sprachtheoretische Betrachtungen schließt er kurz mit poetischen Anekdoten aus der Geschichte der Linguistik. "Über das Vergessen von Sprache" lautet der Untertitel - denn eine Grundeinsicht durchzieht das ganze Buch: Wir Sprechenden sind nicht Herr im Haus der Sprache.

Von Astrid Nettling | 23.06.2008
    Im Anfang war das Wort, heißt es im Johannesevangelium, im Anfang war ein Buchstabe, lautet es in der jüdischen Tradition. Am Anfang menschlichen Sprechens aber steht das Lallen, die Fähigkeit des Kleinkinds, ohne Anstrengung alle in menschlichen Sprachen vorkommenden Laute zu erzeugen. Doch sobald es anfängt, eine bestimmte Sprache zu erlernen, geht dieses unbegrenzte Lautrepertoire verloren.

    Bleibt in den Sprachen der Erwachsenen etwas von der unendlichen Vielfalt des Lallens erhalten, aus der sie hervorgegangen sind? Falls es so sein sollte, wäre es nur ein Echo. Das Echo eines anderen Sprechens oder das Echo von etwas anderem als Sprechen: eine Echolalie, welche die Erinnerung an das undifferenzierte, unvordenkliche Lallen bewahrte, das durch sein Verschwinden erst die Existenz aller Sprachen ermöglichte.
    "Echolalien" hat denn auch Daniel Heller-Roazen sein Buch betitelt, das sich dem Nachspüren solchen Verschwindens widmet. Dem Gedenken eines immer schon Verlorenen oder Vergessenen in Sprechen und in Sprache, deren Spuren der Autor in einundzwanzig ebenso klug wie brillant geschriebenen Essays nachgeht. "Über das Vergessen von Sprache" lautet der Untertitel - denn eine Grundeinsicht durchzieht das ganze Buch: Wir Sprechenden sind nicht nur nicht Herr im Haus der Sprache, auch unser Anspruch auf ein Zuhause darin hat etwas Grundloses, und jeder Aufenthalt und Wohnsitz, den wir in einer Sprache beziehen, verdankt sich uneinholbarer Sprachvergessenheit.

    So führt der Autor den Leser an die Ränder und ins Außerhalb heimischer Sprachterritorien und verschafft ihm bedenkenswerte Einsichten in das, worin wir Menschen uns gewöhnlich wie zu Hause wähnen. Etwa in der sogenannten "Muttersprache". Ein Begriff, der erst im Spätmittelalter geprägt wurde und die "erste", ursprüngliche Sprache sprechender Wesen im Unterschied zur "zweiten" oder zu weiteren systematisch erlernten Sprachen bezeichnet. Heller-Roazen zeigt, dass im Grunde keine Sprache im vollen Sinne als ursprüngliche gelten kann und dass es keine Sprache gibt, die nicht immer schon auf andere Sprachen hin geöffnet ist. "Keine Sprache ist Muttersprache", zitiert er Marina Zwetajewa, die deutsch schreibende, im französischen Exil lebende Dichterin russischer Herkunft. Aber der Autor gibt dem Satz noch eine weitere Bedeutung - "Muttersprache ist keine Sprache", das heißt sie ist keine Sprache im Sinne einer bestimmten Sprache, sondern bildet das Medium jeglicher Sprache überhaupt. Die Muttersprache wäre dann eine Art vorsprachlicher Matrix, aus der sich eine jede Sprache formt und sich beständig umformt, wandelt und erneuert.

    Ursprünglich wäre bestenfalls diese freilich immer schon überschriebene und immer schon verschwundene oder vergessene Mutter-Matrix. Doch nicht nur sie fällt dem Vergessen und dem Verschwinden anheim. Die Sprachen selbst sind davon betroffen, auf längere wie auf kürzere Sicht - "Ob wir es mögen oder nicht, die Sprache wird uns, mit Montaigne zu sprechen, jeden Tag aus den Händen gleiten", schreibt Heller-Roazen an einer Stelle. Denn Wörter, Idiome, Buchstaben, Laute verschwinden oder sind davon bedroht, wie beispielsweise das gehauchte h, das zum Alphabet fast aller Sprachen mit lateinischer Schrift gehört und dem schon der Schriftsteller Karl Kraus seine "Elegie auf den Tod eines Lautes" gewidmet hatte. Heller-Roazen erinnert jedoch daran, dass dieses h die gehauchte Spur ist, die unser lebendiger Atem in der Sprache hinterlässt, und dass uns deshalb vielleicht das h, selbst wenn es wie im Französischen längst verschwunden ist, niemals ganz verlassen wird.

    Möglicherweise aber beginnt sogar alle Sprache mit dem Vergessen. Der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet heißt Aleph, das Rudiment eines ursprünglichen Kehl, Gurgel oder Presslautes, der nicht artikulierbar ist. Ein stummer Anfang von etwas, was erst stimmhaft und Sprache werden muss. In der jüdischen Tradition wurde dieser stumme Buchstabe als das einzig Greifbare an der göttlichen Rede interpretiert, an deren Verlautbarung selbst sich niemand zu erinnern vermag. Daher markiert das Aleph das Vergessen, aus dem alle Sprache hervorgeht, ist - so der Autor - dessen "Platzhalter am Anfang jeden Alphabets".

    Ein Platzhalter für einen immer schon verlorenen, verschwundenen, vergessenen Ursprung, an dessen Stelle Sprache als ein im ständigen Übergang und Wandel befindliches Geschehen tritt. Für die sprechenden Menschen bedeutet dies nicht zuletzt den Zustand nach Babel, wo sie zwischen den Trümmern des babylonischen Bauwerks in der unentwirrbaren Verwirrung oder mit anderen Worten: in den nicht endenden Metamorphosen der Sprachen zu existieren haben, oder, woran Daniel Heller-Roazen ebenso erinnert, es bedeutet die Zeit des Exils, das heißt der uneinholbaren Vertreibung von allen vermeintlich angestammten Sprachgründen und heimatlichen Sprachterritorien, auf die wir Menschen so gerne bauen:

    Am Ende ist das Exil vielleicht die wahre Heimat der Sprache. Und vielleicht findet man erst dann Zugang zum Geheimnis einer Sprache, wenn man sie vergißt.

    Daniel Heller-Roazen: Echolalien. Über das Vergessen von Sprache
    Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.
    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2008