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Vermittler zwischen Ost und West

Andrzej Stasiuk ist zu einer festen Größe im europäischen Kulturbetrieb geworden - und zugleich ein Außenseiter geblieben. Zwar gilt Stasiuk als Star der polnischen Literatur der neunziger Jahre, jedenfalls in Deutschland. Zudem ist der Autor durch den Czarne- Verlag, den er mit seiner Frau Monika Sznajderman betreibt, zu einem bedeutenden Literaturvermittler zwischen Ost- und West avanciert. So hat man die Verbreitung neuerer ukrainischer Literatur in Deutschland zu einem beträchtlichen Teil Stasiuk zu verdanken. Und wenn Stasiuk schließlich im westeuropäischen Feuilleton den Irak-Krieg anprangert oder die Schattenseiten der EU-Osterweiterung beschwört, hört man durch ihn eine kritische und gleichwohl repräsentative Stimme Polens.

Von Martin Sander | 13.01.2005
    In Polen sieht man Stasiuk gleichwohl etwas anders. Den Gralshütern der polnischen Nationalkultur ist er ein Dorn im Auge - nicht nur, weil er herrschende politische Meinungen nur selten teilt. Er provoziert auch durch die Art, wie er die polnische Gesellschaft der kommunistischen Zeit literarisch vorführt. Stasiuk ist kein Anhänger des alten Regimes. Doch ebenso wenig gefällt er sich in der Rolle eines Helden der antikommunistischen Opposition. Stattdessen schwadroniert er gern, wenn auch mitunter voller Sarkasmus, von der guten alten Zeit, die eben auch kommunistisch war, zum Beispiel in seinem 2001 auf deutsch erschienenen fiktiven Erlebnisbericht "Wie ich ein Schriftsteller wurde". Andererseits enthüllt er die Brutalität des neuen polnischen Kapitalismus, so in seinem 2002 auf deutsch erschienenen Großstadtroman "Neun". "Über den Fluss" heißt der nun bei Suhrkamp erschienene Band von Andrzej Stasiuk. Er umfasst zwölf Erzählungen - Geschichten mit unverkennbar autobiographischem Hintergrund, vor allem in der jugendlichen Subkultur des kommunistischen Polen.

    Im Morgengrauen hörten wir Mulligan mit Bob Brookmayer. Unten auf der Straße klirrten Milchflaschen. Jenseits der Wand rasselte ein Wecker. Die Nachtbusse fuhren ins Depot zurück und nahmen niemanden mehr mit. Die Leute standen auf und machten sich auf den Weg in die Fabriken der Vororte. Wir könnten an die Peripherie fahren und uns den Sonnenaufgang ansehen, dachte ich. Den Moment erleben, in dem die rote Scheibe hinter dem schwarzen, zerfransten Grat der Hochhäuser, hinter den gigantischen Hochspannungsmasten auftaucht, sehen, wie sie aus den Feldern emporsteigt, wo die grauen Fabriken stehen, geborstenen Urnen ähnlich, wo Züge aus allen Himmelsrichtungen Dinge und Menschen transportieren, damit die Welt weiter besteht.

    Der Erzähler wahrt Distanz zu seiner Lebensgeschichte und scheint von ihr magisch angezogen. In diesem Zwiespalt begibt er sich auf die Spuren einer Kindheit und Jugend in den Arbeitervororten von Praga, auf der östlichen Weichselseite. Dort kam der Autor 1960 zur Welt. Seine Erinnerung gleitet zurück zu den Lektüreerlebnissen des Dreizehnjährigen in der Stadtbücherei, die sich mit frühen erotischen Phantasien bei der Betrachtung der Bibliothekarin verbinden.

    Stasiuk lässt die Atmosphäre des Religionsunterrichts auferstehen, durchdrungen von dem billigen Parfum und den Zigaretten des Priesters, dem Geruch der Wurstbrote seines Mitschülers und dem eigenen Glauben, keine Glaubenssätze zu benötigen. Und immer wieder begibt sich der Erinnernde auf die Fährte von Nadia, einer mysteriösen Liebschaft aus der Halbwelt.

    Die rotbraunen Mauern und das rostrote Eisen der Balkongeländer und Zäune, einst Verzierungen, hatten jetzt Ähnlichkeit mit Rippen und Knochen. Hier blühte Nadia wieder auf, leicht und körperlich zugleich, erfüllt von einer Reife, die Blumen und Früchten des zu Ende gehenden Sommers eigen ist. Wie eine goldene Chrysantheme zwischen vergammelten Grabsteinen schaukelte ihr Hintern, wenn sie durch die Straßen ging und die alten Frauen ihr Hasserfüllte Blicke zuwarfen. Ja. Ich ging immer einige Schritte hinter ihr, um zu sehen wie die Leute sie mit den Augen verfolgten. Ihr Körper zerfiel dann in tausend Teile, in Hunderte von chemischen Elementen, und meine Sinne, plötzlich vom Wahnsinn befreit, entdeckten ihr tiefstes und wahrhaftigstes Bild.

    Stasiuks realistische, mitunter hyperrealistische Skizzen münden immer wieder in übersinnliche Trugbilder. Wirkliches und Unwirkliches liegt eng beieinander. Der Hang des Erzählers zum Metaphysischen gründet allerdings im Diesseits. Denn in seiner alles andere als nostalgisch verklärten Jugend zur Spätzeit des kommunistischen Regimes dominiert die Flucht aus der Realität: Der Rausch durch Marihuana, Bier, Wodka oder auch Birkenwasser prägt den Bewusstseinszustand des Helden und seiner Gefährten. Die einsamen Protagonisten erleben Liebeskollisionen und verursachen Verkehrsunfälle mit und ohne Fahrerflucht. Ein Unfall bildet auch den - überaus existentialistischen - Schlusspunkt in diesem Erzählzyklus.

    Da kam, kein Mensch weiß woher, jedenfalls irgendwo von rechts, ein schwarzer Hund auf die Fahrbahn gelaufen. Er drückte voll auf die Bremse und spürte, dass das Auto sich zu drehen begann wie ein Kinderkreisel oder ein Karussell und eine Kraft ihn in den Sitz presste. Er spürte, wie das Auto sich von der Erde löste und in den Raum abhob, und in seinem Körper meldete sich Angst, mit Lust gemischt.

    Der Hund ging auf den Bürgersteig zurück und schaute mit seinen gelben Augen aufmerksam zu, wie das kleine Auto wirbelnd auf die linke Spur fiel und unter dem Bauch eines großen roten Lastwagens verschwand.

    Andrzej Stasiuk hat mit diesen zwölf lose miteinander verbundenen Erzählungen einen autobiographischen Anti-Entwicklungsroman entworfen. In den wie zufällig zusammengestellten Szenen erscheint der Werdegang eines Einzelgängers in einer Welt voller Faszination und Schrecken - und außergewöhnlicher Sinnlichkeit.