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Vernunftwesen und Gottestier

Das Buch "Sinn" des Logikers Pirmin Stekeler-Weithofer wendet sich an eine breitere Leserschaft, in der das Bedürfnis nach Philosophie lebendig geblieben ist. Es beschäftigt sich mit der Sinnfrage des Lebens - beziehungsweise mit den Stellern dieser: den Menschen.

Von Konrad Lindner | 08.08.2012
    In seinem Leben nach Sinn zu suchen, das nie vollständig, sondern immer nur partiell gelingt und manchmal auch in Bruchstücke zersplittert, wird nicht wenigen Menschen überhaupt nicht als sinnvoll erscheinen. Wer schon nach dem Sinn des Lebens fragt, wird nach einem guten Roman greifen, aber kaum in ein philosophisches Seminar einkehren. Außerdem dürfte bei der wichtigen Frage der praktischen Lebensvollzüge doch der Pfarrer der beste Spezialist in Sinnfragen sein? Oder?! Pirmin Stekeler von der Universität Leipzig:

    "Das kann sicher so sein. Die Frage des Pfarrers ist: Der Pfarrer predigt. Der Pfarrer meint zu wissen. Der Philosoph möchte, dass die Leute selber denken und damit selbstständiger werden. Ich denke, dass in der Erziehung der Menschen zur Selbstständigkeit der Philosoph besser ist als der Pfarrer."

    Das ist frech. Aber das ist Pirmin Stekeler nicht erst, seitdem er 1992 von Pittsburgh kommend nach Leipzig einflog. Mit einem Buch über "Hegels Analytische Philosophie" in der Tasche übernahm der Absolvent der Universität Konstanz den Lehrstuhl für theoretische Philosophie. Bereits als Gymnasiast in einem Katholischen Internat hatte Stekeler es sich nicht verbieten lassen, den Pastorensohn Nietzsche zu lesen. "Gott ist tot", schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Buch "Die fröhliche Wissenschaft", was aber schon Sokrates wusste, sofern mit Gott ein Väterchen gemeint war, das oben im Himmel wohnt.

    "Nietzsche setzt diese Tradition eigentlich fort. Das weiß er zum Teil. Er kennt natürlich den Rückweg aus dieser götterkritischen Tradition der Philosophie in das Christentum, das dann viele heidnische Deutungen wieder mit aufnimmt. Nietzsche selber meint, dass man nach Darwin sozusagen noch wieder neue Argumente hat, aber die bräuchte man eigentlich gar nicht. Die liegen alle schon auf der Hand. Schon vor Darwin. Wir brauchen Darwin nicht, um nicht an Gott zu glauben."

    Aber anders als der Schmalspurmarxismus, den bereits Ernst Bloch 1956 von Leipzig aus attackierte, weshalb er von Walter Ulbricht aus dem Arbeiter- und Bauernstaat raus geekelt wurde, betrachtet Stekeler die Rede von Gott als fiktional, aber nicht als sinnlos. Diese Rede hat den rationellen Sinn, dass das Leben eines jeden Menschen – ob nun Christ oder Atheist – in ein größeres Ganzes und das heißt sowohl in die menschliche Gemeinschaft als auch in die kosmische Ordnung eingebettet ist. Der Mensch ist Person und das heißt, er ist ein Geist- oder Vernunftwesen oder eben auch ein Gottestier, wobei Stekeler konstatiert, dass "die Fähigkeit zum Denken und Handeln" das "Göttliche 'in uns'" sei "und sonst nichts". "Sonst nichts," heißt: Wer vernünftig handelt, handelt göttlich und muss nicht noch extra – wenn er keine Lust dazu hat - vor dem Altar niederknien. Denn er ist Homo sapiens, der wissende Mensch, der denkend handelt und handelnd denkt. Aber wer meint, dass der liebende Vater mit Bart schon lange tot sei, sollte keine neuen Götzen statuieren. Nicht nur die Rasse und die Klasse waren verfehlte Sinndrogen, auch die Wissenschaft oder die technische Machbarkeit oder das Wohlfühlen ohne Unterlass sind nur Ersatz von Sinn.

    Pirmin Stekeler:

    "Wenn Sie nur eine Perspektive technischer Art auf das Leben haben, dann erscheint der Mensch wie eine Maschine mit Geist wie bei Descartes. Oder wenn Sie nur eine biologische haben, dann erscheint er als Verwandter der höheren Primaten und dann wird völlig ausgeblendet, dass die besondere Lebensform des Menschen in der Tat in einer ganz eigenen Kooperation, aber nicht nur in einer ganz eigenen Kooperation (besteht), auch in einem ganz eigenen Umgang mit den je eigenen Zukünften, mit dem gesamten Leben auch von der Geburt bis zum Tode. Auch wenn ich noch nicht gestorben bin, kann ich mein Leben so formen, dass es nachher ein Ganzes ist, im Rahmen des Lebens auch der anderen Menschen. Das ist etwas, was die Philosophen, insbesondere die Philosophen des 20. Jahrhunderts, immer als Sinnangebot neben die Wissenschaften gestellt haben."

    Die Daseinsanalyse von Martin Heidegger eröffnet eine Philosophie des Selbst- und des Zeitbewusstseins. "Der Mensch ist als Person sozusagen ein modales Wesen", schreibt Stekeler: Er lebt in einem Reich von Möglichkeiten. Das sah Johann Gottlieb Fichte überhaupt nicht anders. Doch es gibt ein Problem der heutigen Massen- und Mediengesellschaften, auf das Fichte in seiner Wissenschaftslehre ebenso aufmerksam macht, wie Stekeler in seinem Sinn-Buch: Die Leute - ob nun in Ost oder West - betrachten sich nicht so gern als Bürger und als Subjekt, sondern lieber als Objekt. Man verhält sich weniger als Person, sondern mehr als Tier. Pirmin Stekeler zitiert eine Passage aus der Wissenschaftslehre:

    "'Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten. Daher haben sie Kant nicht verstanden und seinen Geist nicht geahnt.'"

    "Fichte sieht natürlich, dass wir mit uns selber immer gegenständlich umgehen. Dass wir nicht verstehen, dass es um die Frage der Entwicklung unseres Ichseins geht, also auch uns selber ernst zu nehmen. Und Kants Analyse ist ja die Analyse der Voraussetzungen dafür, eine volle Person zu sein und nicht einfach eine Beschreibung war in meinem Gehirn oder meinem Bauch oder meinem Körper abläuft oder mich selber einzusetzen in einen sinnlosen Kosmos oder in eine vorgeprägte Gesellschaft, sondern dass ich auch aus der Perspektive dessen, der ich bin, als Person die Welt betrachten muss und kann. Die Grundlehre ist, das Objektivste in der Welt ist die Subjektivität des Menschen."

    In seinem Sinn-Buch behauptet Stekeler nichts anderes als Fichte, wenn er meint: Das zentrale Thema der Philosophie sei das Selbstbewusstsein.

    "Selbstbewusstsein ist natürlich Wissen, wo ich mich befinde in der Welt. Aber natürlich im Deutschen hat es die schöne zweite Konnotation: Selbstbewusstsein hat jemand, der handeln kann, der nicht tatenlos bleibt. Insoweit haben wir im Deutschen im Unterschied zum Englischen 'Selbstbewusstsein' als tatkräftiges Wissen, was die Ziele meiner Handlungen sind. Das heißt, selbstbewusst ist ein Mensch, der nicht sich von außen vorgeben lässt, was er zu tun hat, sondern das selber bestimmt. Insoweit hat das deutsche Wort des Selbstbewusstseins immer die Konnotation der Selbstbestimmung. Der Autonomie."

    Durch den Siegeszug von Naturalismus und Szientismus nach Charles Darwin fiel die philosophische Kultur der Gegenwart erstaunlich weit ins 18. Jahrhundert zurück mit dem Dogma, dass der Mensch eine Maschine sei. Die Daseinsanalyse von Martin Heidegger in "Sein und Zeit" mit der Grundstruktur der Sorge und der Frage nach der Zeitlichkeit des menschlichen Bewusstseins ist im akademischen Alltag genauso wenig außerhalb der Philosophischen Seminare verbreitet wie die Ontologie des Noch-Nicht von Ernst Bloch. Im Spontanbewusstsein nicht weniger Akademiker triumphiert die naturalistische Fehldeutung des Menschen zum Materieklumpen oder zum bloßen Apparat mit Software.

    "Die Hauptschwierigkeit des Selbstverständnisses hängt ja damit zusammen, dass wir, wenn wir uns aus medizinischer Sicht anschauen, dann sind wir in der Tat Gegenstände, an denen es alles Mögliche zu verbessern gibt. An denen man herum schneidet und herum bastelt. Dass das Leben, das animalische Leben, das wir natürlich auch haben, nicht einfach durch Basteleien herstellbar ist, sondern durch die Tatsache, dass wir in der großen Einheit der lebenden Wesen uns befinden, das müssen wir immer wieder mal neu lernen. Dass die Differenz zwischen dem Leben des Menschen und dem Leben des Tieres durch den Geist und das heißt durch die andere Art und Weise, wie wir mit der Welt umgehen, durch Reden, Denken, gemeinsames Handeln bestimmt ist, auch das vergessen wir wieder und denken, wir seien eben nur eine Art Tierart mit evolutionärer Geschichte, aber das ist ein Missverständnis."

    Nicht das Gehirn im Kopf ist der Schlüssel zum Denken, sondern das gemeinsame Handeln in allen Sphären, Dimensionen und Institutionen in der mannigfachen Welt des Menschen. Im Miteinander des Handelns wächst dann aber auch das Bewusstsein von uns selbst als Selbstbewusstsein wie ein Baum: Der Mensch reckt sich zum Menschen empor und das heißt zum wissenden und sehenden Menschen. Er wird zwischen Himmel und Erde Person.

    Pirmin Stekeler-Weithofer: "Sinn", Verlag Walter de Gruyter Berlin/Boston 2011, 211 Seiten, 19,95 Euro.