Freitag, 19. April 2024

Archiv

Véronique Bizot: "Menschenseele" und "Die Heimsucher"
Distanz erzeugen, um Nähe zu schaffen

Die französische Schriftstellerin Véronique Bizot gehört zu den Geheimtipps des Pariser Literaturbetriebs. Nicht nur ihre Prosa ist eigenwillig, sondern auch ihre Charaktere. Deren Existenz müsste so weit wie möglich weg von ihrer eigenen sein, sagt Bizot. In "Menschenseele" und "Die Heimsucher" macht sie den Leser vor allem durch Ungesagtes süchtig.

Von Christoph Vormweg | 20.01.2017
    Blich auf die französischen Alpen aufgenommen von Courchevel La Tania im Juni 2016. / AFP PHOTO / ODD ANDERSEN
    Die französischen Alpen im Nebel: Véronique Bizot jongliert mit dem Rätselhaften der Orte. (AFP)
    Wie viel Einsamkeit hält der Mensch aus? Wie viel braucht er, um gut zu leben? In Véronique Bizots Roman "Menschenseele" ist die Einsamkeit allgegenwärtig. Warum, fragt man sich, wohnt der reiche Theaterautor Fouks in den französischen Alpen allein auf einem Bauernhof, der bereits von der Vegetation verschluckt wird? Warum führt der mysteriöse Montoya – offenbar ein ehemaliger Agent - im abgelegenen, oft eingeschneiten ehemaligen Atelier des Malers Haupt ein – wie es heißt - "auf seine einfachste Form reduziertes Dasein"? Und warum leben der Erzähler und sein 25 Jahre älterer Bruder auf einem Hof, der zur Hälfte abgebrannt ist? Die Autorin Véronique Bizot:
    "Beim Schreiben ist mein Ausgangspunkt am häufigsten ein Ort. Dieser Ort gibt dem Text seine Färbung. Denn er ist wie eine innere Landschaft. An ihr lassen sich die Symptome der zwischenmenschlichen Konfliktlagen ablesen, um die herum die Geschichte konstruiert wird. Aber ich weiß nie im Voraus, was ich schreibe. Ich platziere das Dekor und danach geschehen die Dinge."
    Véronique Bizot jongliert mit dem Rätselhaften der Orte und Menschen. Überall reißen existenzielle Abgründe auf. Doch bleiben sie eigenartig vernebelt. Für den Leser sind es gleichsam Türen zum Weiterfantasieren. Weniger die Handlung prägt den Text als der Rhythmus der Gedanken und Erinnerungen. Beim Erzähler von Véronique Bizots Roman "Menschenseele" spielt sich alles im Kopf ab. Denn er ist stumm, laut ärztlicher Diagnose "im Stadium post-traumatischen Denkens". Véronique Bizot:
    "Schreiben bedeutet immer, im Kopf eines Erzählers zu sein, im Kopf einer Figur. Schreiben heißt für mich, ein anderes Bewusstsein zu erobern, ein geistiges Universum, das anders ist als das eigene. Über mich selbst könnte ich absolut nicht schreiben. Denn ich kenne mein Leben, mein geistiges Universum schon zu gut. Schreiben ist für mich eine Ergänzung zum eigenen Dasein, die Erfindung einer anderen Existenz. Je weiter diese Existenz von mir entfernt ist, desto einfacher und interessanter ist das für mich. Deshalb sind meine Erzähler meistens Männer. Das erlaubt mir einerseits, Distanz zu halten, und andererseits, etwas zu erkunden, das mir relativ unbekannt ist."
    Das Vorgestellte ist genauso wirklich wie der trostlose Alltag
    Traumatisiert ist Véronique Bizots Erzähler von dem Brand, der ihm im Alter von elf Jahren die ganze Familie raubte – bis auf den Bruder, der ihn seitdem auch nachts nicht allein lässt. Die Stummheit ist Last, aber auch Freiheit. Denn niemand verlangt oder erwartet etwas von dem Erzähler. Während Fouks, Montoya und sein Bruder ihre Minimalbedürfnisse an Kommunikation teilen, öffnet der Erzähler in der Bibliothek des Theaterautors Fouks seinen Blick auf die Welt. Das Vorgestellte ist genauso wirklich wie der trostlose Alltag – nur intensiver. Die Autorin Véronique Bizot:
    "Ich schreibe, ohne mich den Dingen allzu sehr anzunähern. Ich halte Distanz. Ich will nicht zu deutlich werden, will die Ursachen von etwas und die Figuren nicht zu genau kennen. Das gestattet es dem Leser, die eigene Vorstellungskraft kreisen zu lassen. Ich weiß nicht, was bei ihm letztlich hängen bleibt: vielleicht nur eine Stimmung - so wie bei mir. Ich brauche nicht auf alle Fragen eine Antwort zu haben."
    Die Stärke von Véronique Bizots Roman "Menschenseele" liegt im Sog des Rätselhaften. Stilistisch äußert sich dieser Sog in den für sie so typischen, jede Gewissheit relativierenden, subtil verschachtelten Satzgefügen. Claudia Steinitz und Tobias Scheffel haben sie mit großer rhythmischer Sicherheit ins Deutsche übertragen, so dass es ein Vergnügen ist, sie laut zu rezitieren. Man könnte auch sagen: es ist Präzisionsprosa, die uns als Leser im Ungewissen lässt.
    Daran ändert sich auch nichts nach dem großen "Auslöser": der Einladung zur Premiere eines Theaterstücks von Fouks, die die Vier nach Turin verschlägt. Und das trifft auch auf Véronique Bizots Novellen-Band zu, der unter dem Titel "Die Heimsucher" erschienen ist. "Die Heimsucher" sind jene Menschen, die unsere Vorstellungen bevölkern, egal ob sie aus der nahen oder der fernen Vergangenheit stammen. Sie haben die Macht, uns zu quälen oder uns träumen zu lassen. Véronique Bizot:
    "Ich mag an Novellen, dass man im Elan des ersten Satzes bleibt. Der erste Satz verleiht einen wunderbaren Schwung, eine große Lust. Man hat dann das Gefühl, dass sich das von selbst schreibt, dass man in diesem Schwung bleibt. Bei einem Roman muss man ständig innehalten, sich fragen "was kommt jetzt?", irgendetwas konstruieren, nachdenken. Die Novelle dagegen ist mehr instinktiv als überlegt."
    Ein existenzielles Ungenügen lastet auf allen Figuren
    Der Reiz von Véronique Bizots Prosa liegt im Auslegen neuer Fährten des Möglichen, im Öffnen unerwarteter Assoziationsräume. Über ihren Figurenkonstellationen schweben – gleich einem Damokles-Schwert - lange aufgestaute, meist familiäre Spannungen: so bei dem Erzähler, der nach Jahrzehnten in der Ferne zu seiner Schwester zurückkehrt und vier Grabstellen kauft; oder bei den drei Geschwistern, die mit allem abgeschlossen haben und sich aufs Land zurückziehen, um ein bäuerliches Dasein zu führen.
    Wie im Roman "Menschenseele" lastet auch in den Novellen ein existenzielles Ungenügen auf den Figuren. Immer wieder kitzelt Véronique Bizot dabei die tragikomischen, die grotesken Seiten der menschlichen Existenz hervor: die sadomasochistischen Rivalitäten, die sich durch ein ganzes Leben ziehen; der ewige Furor von Neid und Gier; die Ansteckungsgefahren von Selbstmordgedanken. Ihre Bücher unterwandern die bequeme Konsumhaltung jener Leser, die alles aufgeschlüsselt sehen wollen. Gerade die Offenheit, das Spiel mit dem Halb- und dem Ungesagten macht süchtig. Denn aus der Offenheit keimt die innere Spannung, der zuweilen schwarze Humor.
    Véronique Bizot: "Menschenseele". Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz. Steidl Verlag, Göttingen 2016. 142 Seiten, 18 Euro.
    Véronique Bizot: "Die Heimsucher". Erzählungen. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz. Steidl Verlag, Göttingen 2015. 304 Seiten, 22 Euro.