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Verschachtelte Blickwinkel, mehrere Erzähler

Eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Lateinamerikas ist Carla Guelfenbein. Sie wurde 1959 in Santiago de Chile geboren, verbrachte viele Jahre im Exil und ist heute Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Und sie verbindet auch in ihrem neuen Buch europäische und lateinamerikanische Traditionslinien der Literatur.

Von Maike Albath | 12.08.2010
    "Obwohl es mir in England gut ging, gab es immer diesen Traum, eines Tages zurückzukehren. Diese Sehnsucht ist Teil des menschlichen Daseins. Bei Ovid kommt es vor, in seinen Gedichten über das Exil. Es traf genau das, was wir fühlten. Eine romantische Sehnsucht nach Dingen, die wir zurückgelassen hatten."

    Carla Guelfenbein, Chilenin, Jahrgang 1959, musste ihre Heimat mit 17 Jahren verlassen. Pinochets Putsch hatte ihre Mutter, eine Professorin für Philosophie, 1973 ins Gefängnis befördert, und als politisch aktive Gymnasiastin war auch sie unerwünscht.

    "Wenn man 17 ist, ist einfach alles großartig. Nur für meine Eltern war es ein Schock. Das, wovon sie geträumt hatten, war vollkommen zerstört. Sie gehörten zu der Gruppe um Staatspräsident Allende, drei Jahre lang schienen ihre Träume von Demokratie und Freiheit realisierbar. Alle Leute waren voller Hoffnung, bis diese Phase gewaltvoll und blutig zu Ende ging. Meine Mutter war damals Ende 30, sie starb schon mit 42, und es war schwierig, in einem neuen Land wieder etwas aufzubauen. Wir kamen 1977 nach England. Für mich war es ein Kulturschock und gleichzeitig extrem aufregend. England war hip und auf der Höhe der Zeit, vor allem die Musik, die Carnaby-Street-Phase war zwar vorbei, doch es gab den Punk. Ich war keine Punkerin, aber dieses ganze Funkeln des Lebens war total mitreißend."

    Mit fuchtelnden Händen untermalt Carla Guelfenbein die Geschichten aus ihrer Jugend. Sie steckt voller Energie und ist einem in ihrer Offenheit sofort sympathisch. Mit einer südamerikanischen Matrone hat die gestandene Familienmutter wenig zu tun, aber man glaubt sofort, dass sie in ihrem früheren Beruf als Art-Direktorin der Zeitschrift Elle Hundertschaften von Fotografen, Redakteuren und Models in Schach hielt. Ihre ruhige Unbeirrbarkeit hat offenkundig etwas mit ihrer wechselvollen Biografie zu tun. Nach dem Tod ihrer Mutter musste sich Carla Guelfenbein mit ihren jüngeren Brüdern und dem trauernden Vater allein durchschlagen.

    "Es hört sich sehr tragisch an, aber ich empfinde es nicht so, sondern als eine Geschichte des Lebens, die jedem passieren kann. Ich fühlte mich nicht als Opfer. Es war traurig, das schon. Doch diese Erfahrungen haben mir große Stärke verliehen. Ich bin so, wie ich heute bin, mit meiner Kreativität, meinem Denken, meiner Ruhe, weil ich diese Dinge erlebt habe."

    Europa bedeutete auch ein Freiheitsschub. Anders als in Chile, wo Carla Guelfenbein als Tochter einer alteingesessenen Familie zur Oberschicht gehörte, wurde sie in England als das wahrgenommen, was sie war: ein Individuum mit bestimmten Fähigkeiten. Ein Befreiungsschlag für die Lateinamerikanerin, die Biologie studierte, sich anschließend zur Designerin ausbilden ließ, bis sie Ende der achtziger Jahre entschied, nach Chile zurückzukehren. Es war die Endphase der Diktatur, und wieder gehörte Guelfenbein zu denjenigen, die sich politisch engagierten. Später fand sie den Job bei Elle. Kurz vor ihrem 40. Geburtstag wollte sie endlich das tun, was sie die ganze Zeit im Verborgenen betrieb: Schreiben. Innerhalb weniger Jahre entstanden drei Romane, die sie in Chile auf die Bestsellerlisten katapultierten.

    "Ich kann mittlerweile über alles schreiben. Aber ich muss es wirklich wollen. Die Geschichte muss starke Empfindungen in mir auslösen, Leidenschaft, es darf nicht etwas Äußeres sein. Es muss aus meinen Eingeweiden kommen, nur so wird ein mehr oder weniger gutes Buch daraus."

    Carla Guelfenbein ist keine intellektuelle Autorin, sondern verlässt sich auf ihre Instinkte. Komplizierte Familienverhältnisse, Entfremdung, die Spätausläufer der Diktatur und die Folgen des Exils zählen zu ihren Themen. Verteilt auf drei Hauptfiguren entspinnt sie in ihrem jüngsten Roman Der Rest ist Schweigen die Geschichte einer Familie, in der jeder jeden missversteht. Der Vater Juan, ein erfolgreicher Mediziner, übersieht die Nöte seines kleinen Sohnes Tommy. Um selbst nicht von Schmerzen verschlungen zu werden, hat er Tommy nie anvertraut, dass dessen Mutter sich vor ein Auto warf. Auch seine zweite Ehefrau Alma, die dritte Heldin des Romans, weiß nichts von dem grausamen Selbstmord. Sie ist genauso einsam wie Tommy und Juan, hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung und entfernt sich nach und nach von ihrem Mann. Während Tommy zum Rechercheur der Familiengeheimnisse wird und den Mut hat, die Verkrustungen aufzubrechen, verwickelt sie sich in eine Affäre. Guelfenbein verschachtelt die Blickwinkel und lässt die drei Erzählerstimmen abwechselnd sprechen. Diese multiperspektivische Gestaltung ist der Kern ihrer Ästhetik.

    "Ich beschränke mich in meinen Büchern ungern auf eine einzige Perspektive. Das wäre eine Verengung und reicht mir nicht aus, denn schließlich trägt jeder von uns eine eigene Wirklichkeit mit sich herum. Ich komme gerade aus Paris, Du bist hier in Berlin. Du bist Journalistin, viele Dinge aus Deinem Leben bestimmen die Wahrnehmung dessen, was sich zwischen uns beiden abspielt. Und wenn uns jemand zuhört, fügt sich unser Gespräch in dessen Realität ein. Mir gefällt diese kaleidoskopische Sichtweise der Wirklichkeit, die in der Literatur ja gerade möglich ist. Man kann innehalten und die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten. Im Leben geht das natürlich nicht, aber in den Künsten, im Film, in der Malerei ist es möglich. Wie bei den Kubisten - auf einem einzigen Bild vermitteln sie die Realität aus verschiedenen Blickwinkeln. Man sieht die Vorder- und die Rückseite. Genau das versuche ich auch in meinen Romanen zu machen."

    Und es gelingt ihr, denn erst aus dem Chor der drei Stimmen entsteht ein Bild der tatsächlichen Verhältnisse in der Familie. In ihrer Erzählweise ist Carla Guelfenbein eher traditionell, ihre Romane sind einfach zu lesen und in manchen Zuspitzungen etwas melodramatisch. Ihre große Stärke liegt in der Figurengestaltung: Tommys Abenteurertum vermittelt sich ebenso eindringlich wie Juans Taktik, durch Schmerzvermeidung seelisch abzustumpfen. Der Roman ist auch der Versuch, in die inneren Bezirke des chilenischen Alltags vorzudringen.

    "Als Jugendliche las ich die Bücher, die meine Mutter mir gab. Es war die Zeit des Lateinamerikabooms: Marquez, Vargas Llosa, Juan Rulfo, ich habe diese Schriftsteller geliebt, denn sie haben meine Vorstellungskraft angeregt und mir ein Gefühl für meinen Kontinent Lateinamerika vermittelt. Als ich mit 17 nach Europa kam, entdeckte ich die angelsächsische Welt, die mich stark beeinflusst hat, allen voran Virginia Woolf. Dann kamen die Russen hinzu, Thomas Mann. Es ist eine Mischung aus verschiedenen Stimmen. Im Moment versinke ich gerade in japanischer Literatur. Kawabata ist für mich die reine Schönheit. Es hilft mir sehr, den Ton für meinen neuen Roman zu finden. Ich bin überhaupt nicht wissenschaftlich oder systematisch, sondern lese das, was mich herausfordert. Es ist eine sehr organische Art des Lesens."

    In Verbindung mit der Fülle ihrer eigenen Erfahrungen verknüpfen sich die Traditionslinien lateinamerikanischer und europäischer Literatur zu etwas Eigenem. Am Ende löst sich das shakespearsche Schweigen, auf das der Titel anspielt, doch in etwas anderes auf. In Geschichten und in den Versuch, sie zu erzählen. Genau das treibt Carla Guelfenbein um.

    Carla Guelfenbein, Der Rest ist Schweigen. Aus dem Spanischen übersetzt von Svenja Becker. S. Fischer Verlag Frankfurt/ Main 2010, 288 Seiten, 19, 95 Euro