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Verschenkte Angst

Ich erinnere mich an einen Ausspruch meiner Mutter: Erhielt sie ein Geschenk, das ihren Geschmack nicht traf, so sagte sie: "Was zählt, ist die gute Absicht." Das mag sein, dachte ich, aber noch besser als eine gute Absicht ist ein gutes Geschenk.

Von Silvia Bovenschen | 28.12.2009
    Meine Freundin S. kann, wenn sie ein Geschenk erhält, das ihr nicht gefällt, sagen: "Das Geschenk gefällt mir nicht."
    Ich kann das nicht. Ich zwinge als Beschenkte die Schenker in die Beobachtung. Sie müssen zwischen wahrer Begeisterung und Begeisterungsdarstellung unterscheiden. Ob sie damit besser dran sind? Immerhin: Für die Aufrechterhaltung guter Laune ist mein Modell tauglicher.

    Nun geht es meiner Freundin, das muss hier unbedingt gesagt werden, nicht um die Aufkündigung ziviler Umgangsformen. Sie weiß, dass die Höflichkeit, und zu ihr gehört auch die Ehrung guter Absichten, zu dem Wenigen zählt, das die Angehörigen der menschlichen Spezies davon abhält, sich permanent die Köpfe einzuschlagen. Sie weiß auch, dass der Austausch von Gaben seit alters eine wichtige Bedeutung in sozialen Systemen der unterschiedlichsten Art hat.

    Ich erzähle meiner Freundin, dass sogar Schimpansen die Möglichkeit kennen, sich in die Gunst anderer durch Geschenke zu bringen. "Und was machen sie, wenn ihnen ein Geschenk nicht gefällt?" fragt sie mich. Das weiß ich nicht, und das ist vielleicht besser so.

    Ich vermute: Meine Freundin S. ist als Beschenkte geschädigt. Mit ihrer rauen Reaktion entschädigt sie sich für frühe Enttäuschungen. Wie alle Kinder hoffte sie einst auf beglückende Wunscherfüllung und wurde enttäuscht. Zu oft enttäuscht. Ich vermute, ihr Stolz brachte sie in die Kälte, er verbot ihr, ihre Erwartung zu entheiligen, ins Konventionelle zu zwingen.

    Während ich mich früh, schon als Kind, schamhaft in die Schenk-Rituale einfügte. Erhielt ich, was nicht häufig vorkam, ein nicht sehr befriedigendes Geschenk, so ließ ich mir die Enttäuschung nicht anmerken, um die Schenker nicht zu enttäuschen.

    Da haben wir die ganze Bescherung:
    Die Angst des Beschenkten vor dem enttäuschenden Geschenk.
    Die Angst des Schenkers vor der Enttäuschung des Beschenkten.

    Die Angst des Beschenkten vor der Enttäuschung des Schenkers über die Enttäuschung des Beschenkten. Wo soll das nur hinführen?

    Die meisten Leute haben da gar kein Problem: Einmal schenkte ich an einem fernen Strand einer Frau, die klagte, weil ihr die muttersprachliche Lektüre ausgegangen war, ein ausgelesenes Taschenbuch. Am nächsten Tag schenkte sie mir zwei Packungen Zigaretten. "Jetzt sind wir quitt", sagte sie. Ja, waren wir. Nur nichts schuldig bleiben.

    Die allgemeingültigen Gesetze der Ökonomie ermöglichen angstfreies Schenken. Unter der Regie des Tauschprinzips, das weitgehend auch die Gefühlshaushalte dominiert, muss einzig darauf geachtet werden, dass der materielle Wert eines Geschenks etwa dem des Geschenks entspricht, das man von dem Zurückschenkenden erhalten wird. Im Zuge dieser Verrechnung erhalten zwei Menschen zwei gleichwertige Geschenke, die sie zwar nicht unbedingt wollen, über die sie aber nicht enttäuscht sein dürfen, zumal sie sie ja in der Regel umtauschen können. Da spielen Unwägbarkeiten wie Originalität, Einfühlungsvermögen, Fantasie keine Rolle mehr.
    Muss gesagt werden, dass meine Freundin S. diese Regelwerke der Schenkökonomie zutiefst verachtet?
    Jetzt an Weihnachten muss ich noch ein Geschenk für sie finden.
    Ich habe Angst.