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Verschlafenes Nest am Ende der Welt

Im Jahre 1862 - also vor genau 150 Jahren - erscheint Fontanes erster Sammelband seiner "Wanderungen". Dem Ort Karwe widmet Fontane eines seiner ersten Kapitel. Fontane erzählt darin auch vom kleinen preußischen Adel, der es zu einem preußischen Generalfeldmarschall bringt.

Von Franz Nussbaum | 20.05.2012
    Dieses Karwe könnte man auch ein kleines verschlafenes Nest am Ende der Welt nennen. 400 Einwohner. Fast alle Häuser liegen an der alleeartigen Dorfstraße. Kastanien und Lindenbäume. Eine Gastwirtschaft, ein geducktes Kirchlein mit Friedhof. Und da wo vormals das Schloss oder Herrenhaus derer "von dem Knesebeck" stand, da sind noch Reste eines großen Hofgutes mit Scheunen und Ställen zu sehen.

    Und das Herrenhaus, in DDR-Zeiten verstaatlicht und irreparabel verfallen, ist dann abgerissen worden. Und in den vormaligen Pferdeställen des Gutes haben nun geschickte Architekten und Investoren rustikale Eigenturmswohnungen eingebaut. Große Panoramafenster mit Blick direkt auf den Ruppiner See. Und die massiven Balken in den Wohnungen könnten noch vom sogenannten "Soldatenkönig" spendiert worden sein. Dazu erfahren wir später mehr. Ein paar Kähne und Boote hier am Steg sind angebunden. Der Steg geht durch den breiten Schilfgürtel, wo sich heute Biber und Otter und Enten und andere Wassertiere gegenseitig Guten Tag sagen und ihrem Tagewerk nachgehen. Der Ruppiner See ist ungefähr elf Kilometer lang. Ich wollte den See schon wegen seiner langen, etwas gekrümmten Form mit einer Bratwurst vergleichen. Aber Fontane sagt das viel prosaischer. Als er Karwe besucht, ist Fontane 40 Jahre alt und notiert:

    Der Ruppiner See, der fast die Form eines halben Mondes hat, scheidet sich, seinen Ufern nach, in zwei sehr unterschiedliche Hälften. Die Südhälfte ist teils be-waldet und seit alten Zeiten her von hübschen Dörfern eingefasst. Karwe und Wustrau sind Rittergüter. Karwe liegt am Ostufer des Ruppiner Sees. Und ein Wustrauer Fischer fährt uns in einer halben Stunde hinüber. Ein besonderer Schmuck des Sees ist ein dichter Schilfgürtel, der namentlich in Front des Karwer Parks wie ein Wasserwald sich hinzieht.

    Und aus diesem Wasserwald steuert grade eine Entenmutter mit ihrer Kükenschar zum Sonntagsausflug. Aber es muss nicht alles so idyllisch ausfallen, wie es vielleicht ein ortsfremder Großstädter hier verzückt wahrnehmen möchte. Es könnte auch ein Raubfisch den Geleitzug der Entlein unter Wasser begleiten? Es könnten auch ein paar Nazichaoten den Frieden am Ruppiner See verstören? Man darf nicht blind auf einem Auge sein, das führt zum braunen Star.

    Mit Theodor Fontane etwas erwandern heißt auch den Schriftsteller, den Balladendichter, den Kriegsberichterstatter, den Theaterkritiker, den Romancier an seinen märkischen Wurzeln anpacken. Und deswegen sind wir hier mit Dr. Gotthard Erler verabredet, der kennt Fontane. Wie kommt der nun hier zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg?

    "Es hängt wahrscheinlich mit seinen Englandjahren zusammen. Und es ging ihm darum, die Mark Brandenburg so ähnlich darzustellen, wie schottisch-englische Historiker längst das eigene Land dargestellt hatten. Und das hatte er in Schottland mitgekriegt. Er besucht diese Insel in Loch Leven-See, wo Maria Stuart gefangen saß, und stellt fest, was die hier haben, das haben wir in Rheinsberg auch. Er hatte in Schottland ein Parallelerlebnis zu dem, was es in der Mark Brandenburg auch gibt, aber nicht beschrieben worden ist. Und aus diesen Motiven entsteht der Plan ein solches Buch zuschreiben. Das ist zunächst auf einen Band begrenzt. Und entwickelt sich dann im Laufe von 20 Jahren ganz anders."

    Aber im Anfang war das für den doch auch ein Risiko. Es hätte doch auch sein können, dass die Brandenburger oder die Preußen gesagt hätten, och nö, das wollen wir gar nicht lesen.

    "Fontane hat ganz genau gewusst, dass andere deutsche Landschaften vergleichbar schöne Bücher haben. In Brandenburg gab es das nicht. Und das wollte er schon machen. Man muss dazu sagen, dass ihm die Zeitschriften- und Zeitungsredaktionen diese Artikel schon auch gerne abgenommen haben, weil es Vergleichbares eben nicht gab. Interessant ist eben, dass nicht nur die Berliner Zeitungen zugegriffen haben, sondern auch das Cotta’sche Morgenblatt in Stuttgart. Die haben auch solche Berichte gern gedruckt. Als Information aus diesem fernen Preußen."

    Und derweil sind wir vom See, vorbei an dem ehemaligen Hofgut, vorbei an Kastanienbäumen und Rosenhecken vorbei, zu der 600 oder 700 Jahre alten Dorfkirche gewechselt. Und hier treffen wir Günter Rieger. Die kleine Kirche, renoviert, eine Orgelempore. Und in den Bänken ist Platz für vielleicht 150 Leutchen.

    "Ich muss auch daran denken, in diesen alten Kirchenbänken, wie viele Menschen, Mütterchen hier saßen, wenn ihre Söhne im Kriege weilten, immer in der Hoffnung, dass sie zurückkommen."

    Hier oben die Loge, da saßen wohl die Knesebecks und haben so ein bisschen auf den Pfarrer runter gucken können …

    "Also der Patron in solch einem märkischen Dorf war der Mann, der das Sagen hatte. Er war der größte Landbesitzer. Und er bestimmte, wie das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben im Orte vor sich geht. Der Pfarrer war quasi Angestellter des Patrons. Es war schon ein Untertänigkeitsverhältnis."

    Sie sind Verleger, Sie schreiben, Sie gucken, Sie sammeln. Fast sind Sie so ein bisschen Fontane, auch ...?

    "Wissen Sie, der Fontane ist bei seiner Wanderung an meinem Haus vorbeigelaufen. Insofern fühle ich mich schon geehrt. Da würde ich schon sagen, Fontane kommen sie doch mal rein. Dann hätten wir einen schönen Kaffee getrunken und uns über alles Mögliche unterhalten. Fontane ging hauptsächlich in die Pfarrhäuser. Dort wusste er, dort sind Leute, die ordentlich lesen und schreiben konnten, die auch eine gewisse Bildung hatten, die auch ein inneres Interesse an Zusammenhalt der Gemeinden hatten. Und die vieles wussten."

    Und sie hatten Taufbücher, da konnte man nachgucken. 1699, ach, ja, da ist der kleine Sonstwas geboren ...

    "Ja, ja, also für Fontane waren die Pfarrhäuser die ersten Adressen. Die zweiten Adressen waren dann die Herrenhäuser. Und da war es manchmal nicht so einfach für ihn, einfach da anzuklopfen. Sondern da brauchte er dann auch schon den Zuspruch von anderen Freunden, die die Kontakte in diese adeligen Netzwerke für ihn bereiteten."

    Die haben nicht unbedingt den Fontane reingelassen, weil sie nicht wussten, was macht der aus uns?

    "Wir haben ja dieses Beispiel in Wustrau, wo Fontane über unseren damaligen Landrat, den Sohn des alten Husarengenerals in einer Form geschrieben hat, die dem Grafen von Zieten-Schwerin nicht besonders gefallen hat. Und Fontane weigerte sich in einer Neuauflage der Wanderungen Änderungswünsche des Grafen einzubauen. Das Ergebnis war, die Tür blieb geschlossen."

    Was aber für Fontane spricht, dass er sagt, ich mach mich nicht gelenkig, lass mich nicht so unbedingt verbiegen.

    "Man kann Fontane durchaus als ein sehr positives Beispiel für einen investigativen Journalismus oder Feuilletonismus begreifen. Der auch künstlerische Aspekte höher stellte, als jetzt archivalisch, kleingeistiges historische Interessen. Und das ist das große Verdienst von Fontane."

    Und wer hier ohne Fontanes Wanderungen unter dem Arm durch die kleinen Dörfer am Ruppiner See radelt oder spaziert, sieht nichts. Man mag noch am Kirchenaushang lesen, in diesem Kirchlein gibt’s auch kleine Konzerte und Lesungen. Und es gibt hier sogar eine Kaffeemaschine in der Kirche, wo der Fontane oder wo der liebe Gott, wenn sie inkognito vorbeiwandern, eine Tasse Kaffee bekommen, wenn sie sich ausweisen. Nun wollen wir den Ort mit Fontane ein bisschen kennenlernen. Wir lesen:

    Die ältesten Notizen aus dem Kirchenbuch sind aus dem Jahre 1611. Pest, Plünderungen, Misswachs. Der Schilfwall im See spielte schon während des 30-Jährigen Krieges seine Rolle. Menschen und Vieh versteckten sich darin, wenn die Plünderer anrückten.

    Das geht einem fast am Ohr vorbei. Denken wir uns in die Not der Dörfler im Dreißigjährigen Krieg im feucht-kalten Schilf ein. Während ihre ärmlichen Katen durchsucht und angesteckt werden, genügt vielleicht nur ein Babyschrei am See, um die verrohten Vergewaltigungsorgien und die Ertränkungsfoltereien auszulösen. Ohne Fontanes Vierzeilennotiz würden wir mit unserem Wissen aus "Wer wird Millionär?" nichts wissen. Gute 70 Jahre nach dem Westfälischen Frieden kommt der Namen "von dem Knesebeck" nach Karwe. Herr Fontane, was schreiben Sie uns dazu?

    Christoph Johann von dem Knesebeck, zu Wittingen im Hannoverschen geboren, trat früh in preußische Kriegsdienste. Er war ein großer starker und stattlicher Mann, aber arm. Die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. indes war just die Zeit, wo das Verdienst des Großseins die Schuld des Armseins in Balance zu bringen wusste und gemeinhin noch einen Überschuss ergab.

    Was Fontane hier mit etwas Berliner Witz andeutet, muss uns heute etwas übersetzt werden. Da wird Preußen also von dem Soldatenkönig regiert. Er versucht, durchaus ehrenswert, sein ärmliches Preußen ohne europäischen Rettungsschirm mit viel Knauserigkeit von der Schuldenfalle fernzuhalten. Aber, Majestät, Sie haben einen Sprung in der königlich preußischen Porzellanschüssel. Der Soldatenkönig und gleichzeitig despotischer Vater vom jungen Fritzen hat ein krankhaftes Verlangen nach langen Kerls in Uniform. Die Kerls lässt er sich auch aus dem damaligen Ausland, aus "Hannover" anwerben, und von der Droge Brandwein besäuseln.

    Und damit dem König die extra langen Kerls nicht wieder desertieren, deswegen erfolgt per königlicher Kabinettsorder, dass der lange Offizier von dem Knesebeck zusätzlich noch die reiche Witwe des Generaladjutanten heiraten darf. So kommt die Witwe zu einem langen Kerl. Und der lange Knesebeck zu etwas Vermögen. Und er bekommt das kleine Karwe noch obendrauf. Und er lässt sich hier mit seiner Frau, die ist die junge lustige Witwe eines alten langweiligen Generals, ein Schlösschen bauen. Und Fontane ergänzt:

    Im Kopfe des Königs mochte die Vorstellung lebendig werden, dass die reiche Witwe bis dahin eigentlich alles- und die Gnade Seiner Majestät erst sehr wenig getan habe. Und so versprach er denn dem jungen Paare, das neue Wohnhaus in Karwe einzurichten- und sogar zum Aufbau desselben die Balken und den Kalk liefern zu wollen.

    So rollen also die königlichen Möbel, Spiegel, Schränke, Kommoden, Tische, Betten, Bilder und Balken nach Karwe. Und diese königlichen Balken sind womöglich noch heute zu finden, wenn man sie denn im ehemaligen Pferdestall danach fragt. Gerafft die Karrieren der "von dem Knesebeck" durch die Generationen erzählt:

    Die zweite Generation Knesebeck dient unter Friedrich II. und nimmt an fast allen Schlachten des Siebenjährigen Krieges teil. Anfang der 1750-er Jahre ist Knesebeck Offizier in Friedrich II. Garde. Er wird bei der Schlacht von Collin durch den Leib und mit einer zweiten Kugel durch den linken Arm geschossen. Der französischen Sprache ist er ganz mächtig, hat in Potsdam mit dem Kreis von engen Vertrauten und klugen Köpfen zu tun, den Friedrich II. um sich versammelt. In der dritten Generation erreicht der Enkel, Karl Friedrich von dem Knesebeck, die höchste preußische Rangstufe und wird als 79-Jähriger sogar "Generalfeld-marschall".

    Und wir fragen den heutigen Marine-Offizier a. D. Krafft von dem Knesebeck, ein hochgewachsener, stattlicher langer Kerl (Pardon), der hier am See im umgebauten Pferdestall lebt nach seinem Urahn, dem preußischen Generalfeldmarschall. Mit 14 Jahren Soldat geworden.

    "... mit.13, sogar."

    Ein Kindersoldat?

    "Ja, Kadett geworden. Mit dreizehn sind die sicherlich nicht in den Krieg gezogen. Dann schreibt er in seinem Rückblick, über 60 Jahre geblieben, bis fast zu seinem Tod. Aber er war eben nicht nur Soldat, er war auch Poet und Diplomat. Dass er eben auch Gedichte geschrieben hat. Dass er in diesem literarischen Zirkel drin war, bei Gleim in Halberstadt. Da kam man auch nicht so ohne Weiteres rein. Da waren ja auch viele berühmte Dichter. Im Gleim-Museum in Halberstadt ist auch seine Korrespondenz zu finden, mit Gleim. Also, er muss in der damaligen Zeit eine gewisse Popularität gehabt haben. Er hat auch Gedichte und Lieder geschrieben, die zu damaliger Zeit bekannt waren."

    Also, aus einem Regiment in Halberstadt, beginnt der der 20 jährige Karl Friedrich von dem Knesebeck seine Gedichte zu schreiben und knüpft dort seine Verbindung zu Gleim und dem Dichterkreis. Dieses Regiment wird als das "literarische" Militärregiment bezeichnet, weil Offiziere und Mannschaften einen beachtlichen Bildungsstand aufweisen, wie Fontane recherchiert. Untypisch für eine an sich traditionell bevorzugt trinkfeste Soldateska. Und hier auf dem Ruppiner See heckt dieser Knesebeck auch mit dem gleichaltrigen Sohn des Husarengenerals von Zieten aus Wustrau, beide hecken hier ein karnevalartiges "Seegefecht" aus. Wustrau liegt hier am See Karwe genau am gegenseitigen Ufer gegenüber. Und Fontane übernimmt die amüsante Gefechtschronik aus der Feder des von dem Knesebeck fast wörtlich in seine Wanderungen. Die vielen Lebensstationen dieses späteren Generalfeldmarschalls, in flüchtigen Stichworten angedeutet:

    1806, bei Preußens Niederlage in der Schlacht von Jena und Auerstedt, soll er den König vor dem Zugriff der Franzosen gerettet haben. 1812 besucht von dem Knesebeck in geheimer diplomatischer Mission den russischen Zaren in Sankt Petersburg. Und drängt und rät, der Zar möge Napoleon in die Tiefe des weiten russischen Raumes locken und dann mit Hilfe des Generals "Winter" aufreiben und sich selbst vernichten. 1813 in den deutschen Befreiungskriegen und in der Völkerschlacht bei Leipzig ist von dem Knesebeck einer der strategischen Planer. Später begleitet er den König von Preußen zum Wiener Kongress.

    Und Theodor Fontane hat Karwe und hat auch diesen Knesebeck vor 150 Jahren sich "erwandert". Und Fontane beschreibt auch in dem kleinen Dorfkirchlein von Karwe ein großes Kruzifix und zwei Kerzenleuchtern auf dem Altar. Das sind Geschenke des preußischen Königs und des russischen Zaren Alexander. Klammer auf, das ist der Alexander, nach dem auch der Berliner Alexanderplatz benannt ist. Aber das wäre schon wieder eine neue, andere Geschichte.