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Verschlungener Lebensweg

Ich wollte Delikatessenhändler werden, denn damals, zum Zeitpunkt der großen Wirtschaftskrise, hörte ich einmal einen Mann sagen: ‚Die einzigen Leute, die heute was zu fressen haben, san die Delikatessenhändler. Die können wenigstens des auffressen, was sie nicht verkauft haben.

Von Wolfgang Stenke | 02.09.2004
    Der Berufswunsch eines Kindes aus proletarischer jüdischer Familie, aufgewachsen im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten.

    Und ein Bürgerkrieg kam nach Favoriten, Straßenbahnen blieben stehn. Polizei ist durch die Straßen geritten, viele Fahnen sah ich wehn. Und ich lernte: Es ist zwecklos zu bitten. Ich sah Menschen, die an Schusswunden litten, hörte sie um Hilfe flehen.

    Gerhard Bronner, Jahrgang 1922, ist nicht Delikatessenhändler geworden. Sondern Kabarettist, Musiker, Regisseur, Theaterdirektor. Zusammen mit Helmut Qualtinger, Carl Merz und Georg Kreisler einer der Protagonisten des legendären Wiener Kabaretts. In der Autobiographie "Spiegel vorm Gesicht" hat Gerhard Bronner die gut acht Jahrzehnte seines verschlungenen Lebensweges aufgezeichnet – von der Kindheit im Milieu jüdischer Sozialisten über die Emigration nach Palästina bis zur Rückkehr ins Wien der Nachkriegszeit und zu den großen Erfolgen als zeitkritischer Satiriker, Komponist, Chansonnier. Ein Multitalent, das sich ausweislich dieser Memoiren nicht nur auf der kabarettistischen Kurz-, sondern auch auf der erzählerischen Langstrecke bewährt.

    Ich blieb und lernte weiter. Zum Beispiel Wiener Gemütlichkeit. Es war im März `38. Zwei Hitlerjungen haben mich furchtbar verdroschen, und der Wachmann, den ich zu Hilfe rief, sagte: ‚Na ja, Du wirst sie wahrscheinlich gereizt haben.’

    Das Buch lebt von der dichten, oft ironisch distanzierten Schilderung der Wechselfälle, die Bronners Vita prägen. Und von dem Staunen des heute 82jährigen, dass er als einziger seiner Familie dem nationalsozialistischen Massenmord entronnen ist. – Eine Szene aus dem Jahre 1938: Vater und Bruder waren im KZ Dachau inhaftiert; Bronner wollte emigrieren. Um einen Paß zu bekommen, brauchte er einen "Steuerunbedenklichkeitsnachweis". 32 Stunden stand er bei der Finanzbehörde an, ehe er vorgelassen wurde.

    ’Ja bist denn Du schon steuerpflichtig?’ wollte der Beamte wissen. ‚Nein, ich bin erst 15 Jahre alt.’ ‚Ja, da muß Dein Vater kommen und den Nachweis einreichen.’ ‚Bitte, das geht nicht.’ sagte ich. ‚Warum soll das net gehn?’ ‚Weil mein Vater im KZ Dachau ist.’ ‚Ja, da mußt halt warten bis er wieder rauskommt.’ Verzweifelt fragte ich: ‚Bitte, wovon soll ich bis dahin leben?’ Da sah mich der Beamte mit einer durchdringenden Freundlichkeit an und sagte: ‚Hat Dir ja keiner g’schafft, dass Du leben sollst!’

    Bronner floh über die grüne Grenze ins tschechische Brünn, hielt sich dort als Fensterputzer und Straßenmusikant über Wasser, dann fuhr er mit einem Freund aus der zionistischen Jugendbewegung als blinder Passagier auf einem Vergnügungsdampfer der Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" zum bulgarischen Donauhafen Rustschuk. Ziel der beiden war das rumänische Konstanza am Schwarzen Meer. Von dort schafften die Zionisten der Hagana auf illegalen Seelenverkäufern jüdische Flüchtlinge nach Palästina. Um von Bulgarien nach Rumänien zu gelangen, mussten Bronner und sein Freund Michel über die Donau schwimmen. Michel ertrank, Bronner erreichte das rettende Ufer. Und fragte sich, wie so oft in seinem Leben: "Warum gerade ich?"

    Diese Melancholie durchzieht das ganze Buch. Und trotzdem erweisen die burlesken Schilderungen des Lebens in Palästina und später der Nachkriegsjahre in Wien Bronner als ein ausgesprochenes Glückskind, das unverhoffte Chancen zu nutzen weiß: Die Arbeit als Entertainer beim Soldatensender der britischen Mandatsmacht in Haifa, die Wiederbegegnung mit einer Jugendfreundin aus Wien, die Möglichkeit, die autodidaktisch erworbenen musikalischen Fertigkeiten mit der Hilfe anderer Emigranten auszubauen. 1948 verlässt Bronner mit Frau und Kind Israel, um nach London zu gehen.

    In Wien macht er auf Bitten seiner Frau Station, um die Schwiegereltern kennenzulernen, die vor dem Holocaust nach Shanghai geflohen waren. Bronner arbeitete beim Sender Rot-Weiß-Rot, den die amerikanische Besatzungsmacht gegen die Radiostation der Sowjets installiert hatte. Außerdem spielte er in einer Bar Klavier. Mit einem Stammgast freundete er sich an. Eines Abends war dieser Gast sichtlich bedrückt. Bronner fragte nach dem Grund:

    ’I muß aus meiner Wohnung ausziagn. Weil der Jud, dem die früher gehört hat, ist zuruckkomm’n. Er will’s jetzt wiederham.’ – Ich enthielt mich einer Aussage. Er brütete still vor sich hin. Plötzlich sagt er folgendes: ‚Is des net a Pech, hörst. Soviele Juden ham’s derschlagen und ausgerechnet meiner muß zuruckkommen.’ Das war der Moment, wo ich überlegt hab’, ob ich da richtig bin, ob’s für mich eine Zukunft gibt in dieser Stadt.

    Ignoranz und reaktionäres Spießertum sind freilich der Stoff, aus dem das politische Kabarett seine Gegengifte destilliert. Und so entstanden in Zusammenarbeit mit Helmut Qualtinger und Carl Merz jene Figuren, die die boshaft-braune Seite des goldenen Wien denunzierten: Der "Herr Karl" und "Travnicek". – Qualtinger war ein schauspielerisches Genie, das leider unmäßig trank, in seinen schlechtesten Zeiten auf 160 Kilo anschwoll und im Suff die Texte vergaß.

    Da hatte ich eine seltsame Idee: Ich hab’ ein Sauflied geschrieben, als Rolle für ihn in unserem nächsten Programm, weil, ich hab’ mir gedacht, wenn er ein Lied zu singen hat, wo alle Scheußlichkeiten des Saufens besungen werden, wird er sich vielleicht ändern.

    Zumindest während dieses Programms, so behauptet Bronner, sei Qualtinger trocken geblieben.

    Ein Krügerl, ein Glaserl, ein Stamperl, ein Tröpferl, da werden meine Äugerln gleich feucht, da draht si mei Herzerl, da draht sie mei Köpferl, die Fußerln wern luftig und leicht, da muß i der Musi an Hunderter reibn, i bin in mei’m Himmel und dann geh i spein. Ein Krügerl, ein Glaserl, ein Stamperl, ein Schwül – man braucht zur Seligkeit zwei, drei Promille. (...) Ein Krügerl, ein Glaserl, ein Stamperl, sonst fühl i mi nimmermehr wohl, weil: hob i erst des nötige Quantum do drin, do merk i net, was für ein Trottel i bin. Drum brauch i den Alkohol.

    Auf die Dauer aber half die musikalische Entziehungskur nicht – Qualtinger - Spitzname: Quasi - starb schon 1986, im Alter von 58 Jahren. Ein Partner, der, wie Bronner ein wenig verärgert anmerkt, stets dazu neigte, im Laufe der Zeit die Texte, die man ihm schrieb, als die eigenen auszugeben. Mittlerweile ist Qualtinger zu musealen Ehren gelangt: "Quasi ein Genie" hieß die Gedenk-Ausstellung, die das Wien-Museum ihm ausgerichtet hat. Doch während Qualtinger ein Fall für die österreichische Erinnerungskultur geworden ist und Georg Kreisler sich ins Basler Exil zurückgezogen hat, trifft man Gerhard Bronner mit seinen 82 Jahren in der Wiener Broadway Bar oder auf Tournee bei der Präsentation seiner Autobiographie – immer im Dialog mit dem Publikum:

    Wissen Sie, was da so stattfindet, ist ein Ping-Pong-Spiel zwischen Bühne und Publikum. Der Mensch auf der Bühne kann immer nur ‚Ping’ sagen, wenn von Ihnen kein ‚Pong’ kommt, dann steht der Mann auf der Seife und kann sich heimgeigen lassen. Und ich muß Ihnen ein echtes Kompliment machen: Ihr ‚Pong’ war großartig.

    Gerhard Bronner
    Spiegel vorm Gesicht. Erinnerungen
    Deutsche Verlags-Anstalt, 267 S., EUR 19,90