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Verschriftlichte Vorlesung in Poesi

Ulrich Peltzer hat in Frankfurt eine Poetikvorlesung in Frankfurt gehalten, die nun als Buch erschienen ist. In dieser Vorlesung hat sich Peltzer unter anderem mit Robinson Crusoe und Huckleberry befasst.

Von Sabine Peters | 03.03.2011
    Was will Literatur, zumal, wenn sie zwar kein Plädoyer für oder gegen etwas ist, sie allerdings trotzdem Standpunkte kennt und somit der Aufklärung im weitesten Sinne verpflichtet ist? Wie sind veränderte Macht- und Herrschaftsverhältnisse heute darstellbar? Und wo wäre in der flackernden Vielfalt der Gegenwart ein Subjekt aufzufinden? Die virtuosen Romane des 1956 geborenen Ulrich Peltzer reflektieren diese Fragen. Bücher wie "Bryant Park" oder "Teil der Lösung" sind komplex gebaute Texte, die das ganz Normale und Alltägliche, die also Widersprüche quasi "gleichzeitig" erzählen oder doch sehr eng miteinander verschränken. Bei all ihrer Intellektualität sind Peltzers Romane immer auch ein sinnliches Vergnügen, realitätsgesättigt, in einer fließenden Sprache geschrieben, und dramaturgisch aufgeladen durch die schnellen, harten Schnitte.

    Soeben ist ein Band mit Peltzers Frankfurter Poetikvorlesungen erschienen; diese traditionsreichen, berühmten Vorlesungen bieten Schriftstellern die Gelegenheit, das eigene Tun theoretisch zu reflektieren, und fast immer nehmen sie dabei den Weg über das Lesen, über ihre je subjektive Lektüre anderer Autoren.

    So auch Ulrich Peltzer, der bei James Joyce hört, wie sich Prosa in Klang verwandelt; der mit ihm die verschlungenen Wege durch die Stadt Dublin geht und die konzentrierte Zerstreutheit seiner "everybodies" verfolgt, zum Beispiel die des Leopold Bloom oder seiner angetrauten Frau Molly. Welche Eindrücke, Geschichten, Affekte treffen in einem Menschen zusammen und bilden seine Subjektivität, was macht ihn typisch und dabei doch komplex und eigenartig? Jede Literatur "liest" die Symptome ihrer Zeit, ob das nun die Intention des Schreibenden ist oder auch nicht, ob er sie "richtig" liest und was auch immer "richtig" in diesem Zusammenhang heißen mag. Peltzer zeigt das anhand seiner kritischen Lektüre von Defoes Robinson Crusoe: Robinson, ein "verlorener Sohn", der vor dem in Aussicht gestelltem maßvollen Leben in England floh, um 1659 mutterseelenallein auf einer einsamen Insel zu stranden. Was folgt, ist nicht etwa das wilde Leben auf einer fruchtbaren, sozusagen gastfreundlichen Insel, wo Robinson endlich frei von den Zwängen der Gesellschaft ist. Fast wichtiger als der Kampf ums materielle Überleben wird ihm der moralische Kampf um sein Seelenheil. Die Robinson-Geschichte erzählt von der Bemühung, gehorsam, fleißig und fromm zu sein. Der Held mit seinem rigiden Tagesablauf zwischen Beten und Arbeiten ist laut Peltzer sozusagen der Prototyp des Menschen, der sich selbst domestiziert, der die vorher geflohenen Normen und Werte perfekt internalisiert und der also beides wird: Gefangener und Wärter seiner selbst. Ganz anders Mark Twains Huckleberry Finn, ein Außenseiter, der vor den sogenannten Tugenden der Sklavenhaltergesellschaft in den amerikanischen Südstaaten davonläuft, und das nicht aus abstrakten Überlegungen heraus, sondern zunächst aus simplen direkten, körperlichen Erfahrungen: Huck Finn ist für steife Kleider nicht gemacht, nicht fürs Herumsitzen und ganz bestimmt auch nicht für eine bigotte Moral, die im Zweifelsfall jede konkrete Hilfe verweigert. Huck entscheidet sich im Zweifelsfall gegen die Gesetze, für die Freundschaft mit dem Sklaven Jim. Ulrich Peltzer ist fasziniert von dem Freischweifenden dieses Romans, der keinen Plot und keine Moral kennt; der mäandriert wie der Fluss, auf dem die Jungen herumschippern. Ein Text, der ständig falsche Fährten legt, ein Held als Jongleur mit wechselnden Identitäten: Der "entkolonialisierte" Huck lügt sich gegenüber den mehr oder weniger etablierten Nachbarn wechselnde Biografien zurecht; er will nie ins Zentrum oder gar ein neues Zentrum errichten - lieber bewegt er sich an den Rändern. Das ist das literarische Verfahren, das Peltzer weiterhin leidenschaftlich beobachtet: Auch wenn spätestens im 20, 21. Jahrhundert die Stadt als der privilegierte Erfahrungsraum der Moderne verstanden werden kann, geht es ihm doch darum, wie von ihren Rändern her die herrschenden Signifikanten ignoriert, umgedeutet und unterwühlt werden können. Dahinter steckt die einfache und doch offenbar wortwörtlich "unerhörte" Einsicht, dass das eigene Zentrum nie das der Welt ist.

    Welche Konsequenzen hat das fürs Schreiben von Peltzer selbst? Wenn die Realität nicht so eindeutig ist, wie man das von der eigenen Warte aus gern annimmt; wenn man anerkennt, dass es keine unabänderlichen Bedeutungen und Werte gibt; wenn man sich für die Widersprüche in gesellschaftlichen Entwicklungen interessiert, dann hat Literatur ihrerseits die Aufgabe, Eindeutiges aufzulösen. Daher kann sich jede Geschichte an jedem Punkt des Erzählens aufsplittern in verschiedene Varianten und Möglichkeiten. Peltzer spricht in diesem Zusammenhang von "Unbestimmtheitszonen". Das Fragile eines solchen Schreibprozesses findet er schon bei Kafka formuliert, der einmal notierte: Die Dinge fielen ihm nicht von der Wurzel her ein, sondern quasi aus der Mitte des Stengels. "Angefangen wird mittendrin", das ist ein programmatischer Titel, den Ulrich Peltzer seinen Frankfurter Vorlesungen gegeben hat. Aber die Texte selbst laufen eben nicht auf ein Programm hinaus, sondern artikulieren Brüche und Bewegungen. Die Vorlesungen wechseln gegen Ende wie mitten im Satz und werden zu einem Einblick in die eigene Werkstatt. Das Recherchieren in Bibliotheken, zufällige Begegnungen, die eine Empfindung entzünden, die noch nicht gleich zur Sprache wird - "der" sichere erste Punkt des Schreibens lässt sich nicht ausmachen. Und doch oder eben gerade deshalb ist man plötzlich mitten im Satz, ist man nicht mehr bei Kafka, Gaddis oder Woolf, sondern man ist mitten in einer Szene des entstehenden neuen Romans von Ulrich Peltzer.

    Natürlich lösen diese Vorlesungen häufig auch den Wunsch aus, mit dem Autor zu diskutieren oder etwas hinzuzufügen. Die Brüderlichkeit zwischen den Außenseitern Huck und Jim etwa - ist das lediglich ein Privileg der Randständigen, liegt hier nicht die Gefahr nahe, in eines der Denks-Schemen zu geraten, an deren Auflösung Peltzer doch arbeitet? Oder: Da wird solidarisch mit Huck und Jim gegen die Durchschnittsbürger, "die Normalos" gehetzt, von denen es heißt, sie hätten kaum mehr in der Brust als einen quer gestreiften Muskel zur Blutzirkulation. Ist der Vorwurf nicht etwas pauschal? Aber gut: Die Vorlesungen wollen bei aller Differenziertheit natürlich auch pointieren. Daraus erklärt sich wahrscheinlich auch die Robinson-Lesart, der zufolge dieser gestrandete Held mit der unerbittlichen Inbesitznahme und Unterjochung der Insel sozusagen auch ein Gefängnis der eigenen Seele errichtet. Hier möchte man an Michel Tournier erinnern, der in seinem Roman "Freitag oder im Schoß des Pazifik" einen anderen Aspekt hervorhob beziehungsweise sein Verständnis für den Helden formuliert: Völlig auf sich selbst gestellt, ohne die Menge seiner Zeitgenossen, die Robinson im Menschlichen festhalten, droht eine Triebfeder seiner Seele zu brechen. Die starr gefügte Insel-Ordnung, die Tournier in seiner über die Ursprungserzählung hinausführenden Fiktion schließlich auf beglückende Weise auflöst, diese Ordnung erscheint einem daher nicht ausschließlich als ein Gefängnis. Tourniers Robinson vermittelt das Unbehagen an der Kultur, aber auch deren geschichtliche Wurzeln; und die Lebensnotwendigkeit der Kultur für den einsamen Robinson - bevor der Autor ihn durch eine andere Entwicklung der "Freitag-Geschichte" in einen freien Zustand überwechseln lässt.

    Um zu Peltzer zurückzukommen: Es geht nicht darum, seine Lesart gegen die eines Tourniers auszuspielen; dieser Einschub zeigt vielmehr, wie die Lektüre seiner Vorlesungen in einem Leser zünden kann. Die fünf Vorträge bilden auf großer intellektueller Höhe ein genau kalkuliertes Ganzes. Lesen, Erzählen und Reflektieren gehen flirrend ineinander über - man hat es hier mit einer Lektüre zu tun, die im emphatischen Sinne risikoreich ist.

    Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Fischer-Verlag, 175 Seiten, 17,95