Samstag, 20. April 2024

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Verschwundene Akten und geheime Konten - Ex-Bundeskanzler Kohl vor dem Untersuchungsausschuss

Heinlein: Am Telefon in Berlin begrüße ich FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle. Guten Morgen!

29.06.2000
    Westerwelle: Schönen guten Morgen.

    Heinlein: Herr Westerwelle, der Hirsch-Bericht gestern eine neue Dimension in der CDU-Affäre um Helmut Kohl?

    Westerwelle: Das ist ganz unzweifelhaft eine völlig neue Dimension. Dieser Bericht eröffnet eine völlig neue Qualität der ganzen Vorgänge. Ich denke auch, man muss diesen Bericht sehr ernst nehmen. Burkhard Hirsch hier Befangenheit vorzuwerfen, wie das Abgeordnete der CDU getan haben, finde ich unseriös. Herr Hirsch ist ja ein Abgeordneter des deutschen Bundestages der Regierungskoalition gewesen und hat ja als Abgeordneter selbst Helmut Kohl seinerzeit mit zum Bundeskanzler gewählt. Dass er jetzt hier eine unabhängige Aufgabe als Anwalt gemäß der Disziplinarordnung, nämlich als Ermittler wahrnimmt, das ist nur zu begrüßen. Die Ergebnisse, die er vorlegt, die sind schockierend.

    Heinlein: Die SPD spricht in diesem Zusammenhang von "Regierungskriminalität". Halten Sie diesen Verdacht für überzogen oder für angemessen?

    Westerwelle: Ich würde nicht so weit gehen, dieses Wort jetzt schon zu verwenden, aber ich kann nicht ausschließen, dass wir alle in einigen Wochen oder einigen Monaten dieses Wort verwenden müssen. Es ist auffällig, dass nach diesem Bericht hier ganze Aktentatbestände systematisch vernichtet worden sind. Zu den Aktenbeständen zähle ich insoweit natürlich auch die computergespeicherten Aktenvorgänge. Es ist auffällig, dass in dem Wirtschaftsministerium oder in den anderen Ministerien Vorgänge vorhanden sind, die eigentlich als Adressat das Kanzleramt hatten und im Kanzleramt plötzlich nicht mehr zu finden sind. Das ganze zu erklären mit einer Schlamperei von irgendwelchen angetrunkenen Registraturbeamten ist eine Unverschämtheit. Erstens denke ich ist das ein reines Ablenkungsmanöver und zweitens: so kann man sich nicht aus der Affäre ziehen.

    Heinlein: Schlamperei, Sie haben es gesagt, kommt für Sie als Erklärung nicht in Frage. In der Tat konnte der Hirsch-Bericht eine Frage nicht klären. Wer ist verantwortlich für die Vorgänge im Kanzleramt? Haben Sie denn eine Vermutung, eine Erklärung?

    Westerwelle: Es gibt zunächst einmal eine politische Verantwortlichkeit, und das ist zweifelsohne der Verwaltungschef des Amtes. Dann gibt es eine juristische Verantwortlichkeit, denn wir reden hier ja auch über strafrechtlich relevante Vorgänge. Die politische Verantwortlichkeit wird uns heute nicht mehr weiterführen, weil diejenigen, die seinerzeit Verantwortung getragen haben, ja heute nicht mehr im Amt sind.

    Heinlein: Sie sagen, der Verwaltungschef des Amtes muss die politische Verantwortung tragen. Sie meinen damit Helmut Kohl und Friedrich Bohl?

    Westerwelle: Selbstverständlich. Der Verwaltungschef ist zunächst einmal der Behördenchef, und das ist derjenige, der mit der Verwaltung beauftragt gewesen ist. Nur die politische Verantwortung hat ja ein Ende, wenn die Regierung ohnehin durch eine andere ersetzt wird. Insoweit ist es müßig, darüber zu reden. Das entscheidende ist jetzt die juristische Verantwortlichkeit, und hier ist die Staatsanwaltschaft in der Tat gefragt. Ich bin selber von Hause aus Anwalt, und das sind klare Anfangsverdachte dafür, dass strafbares Handeln im Kanzleramt stattgefunden hat. Man darf nicht amtliche Akten einfach vernichten oder verschwinden lassen oder unterdrücken oder irgendwo an anderer Stelle so verstecken, dass man sie etwa in einem Wust von Kellergeschossen nicht wiederfinden kann. Das ist nicht erlaubt. Eine Regierung hat in einer Demokratie die Verpflichtung, alles was zum Regierungshandeln zählt auch der nächsten Regierung zu übergeben. Es ist völlig selbstverständlich, dass man persönliche Angaben wie Terminkalender oder irgendwelche politischen Strategien oder auch parteipolitische Korrespondenz mitnimmt. Aber wir reden jetzt hier darüber, dass ja vor beziehungsweise nach einer Abwahl einer Regierung und vor einem Regierungswechsel, bevor das Amt dann übernommen worden ist, Akten vernichtet und Festplatten sowie Computerdaten gelöscht worden sind.

    Heinlein: Herr Westerwelle, darf es denn so sein, dass man jetzt die Beamten, die die Akten in den Schredder gesteckt haben, vielleicht juristisch zur Verantwortung zieht und diejenigen, die diese Aktenvernichtung angeordnet haben, unbehelligt lässt?

    Westerwelle: Nun wissen wir leider alle nicht, wer sie angeordnet hat. Das hat ja auch der Sonderermittler Hirsch nicht herausfinden können. Das wird jetzt eine weitere Aufgabe sein. Es kann gut sein, dass im Laufe des Disziplinarverfahrens gegen die betroffenen Beamten - es sind ja bereits einige eingeleitet worden - auch herauskommt, wer denn diesen Beamten und ob jemand diesen Beamten Weisung gegeben hat.

    Heinlein: Herr Westerwelle, 16 Jahre lang war die FDP Partner in der Regierung Kohl. Sehen Sie denn ein Stück weit Mitverantwortung, politische Mitverantwortung Ihrer Partei an den Vorgängen im Kanzleramt?

    Westerwelle: Wir sind über diese Vorgänge schockiert und wir können nur sagen, dass diese Art der Aktenübergabe in unseren Häusern nicht stattgefunden hat. Insoweit muss man einfach darauf achten, dass man jetzt nicht jeden Minister, übrigens auch keine Minister der anderen Parteien, die vielleicht in der Regierung im Amt gewesen sind, in Verantwortung dafür nimmt, was im Kanzleramt nach dem Regierungswechsel stattgefunden hat.

    Heinlein: Muss sich denn Ihre Partei, die FDP nach den gestrigen Enthüllungen nicht noch stärker distanzieren von der Person Helmut Kohl und seinem Verhalten in dieser Affäre?

    Westerwelle: Wir haben uns in dieser Situation immer ganz klar geäußert. Ich will auch heute hier einen Schritt weitergehen, weil Helmut Kohl ja heute auch vor dem Untersuchungsausschuss steht. Er hat das Recht, sich nach dem Gesetz so zu verhalten wie jeder andere, der beschuldigt ist, dass er nämlich die Aussage verweigert. Wenn er aber die Zeugen nicht nennt, die Zeugen der Spender nicht nennt, dann wird er natürlich dafür sorgen, dass die Spekulationen nach diesen Aktenvernichtungen in heiklen Fragen weiter ins Kraut schießen. Das tut dem Land nicht gut. Wenn Helmut Kohl der Meinung ist, dass sein Wort höher steht als seine Verpflichtung nach der Verfassung, dann mag er das selber so werten, aber die Öffentlichkeit in unserer Verfassung sieht das anders. Dann kann er auch nicht Abgeordneter des deutschen Bundestages bleiben. Wer sich so einlässt, dass er sagt, mein Wort ist wichtiger und nehme ich auch wichtiger als das Wort der Verfassung, der verstößt gegen diese Verfassung und der kann nicht Abgeordneter bleiben, also Mitglied des Gremiums bleiben, das die Gesetze in Deutschland setzt, nach denen sich alle Bürger zu richten haben.

    Heinlein: Herr Westerwelle, Sie unterstützen also die Forderung, die in der SPD laut geworden ist, dass Helmut Kohl sein Bundestagsmandat zurückgeben soll, wenn er heute die Aussage verweigert?

    Westerwelle: Das hat weniger etwas mit der Aussageverweigerung zu tun, sondern es hat etwas damit zu tun, dass er Namen nicht nennt, nämlich Namen von Spendern nicht nennt. Dass er zu bestimmten Vorgängen nicht sprechen will, mit denen er sich nicht belasten möchte, das ist etwas Normales. Das wird es immer geben. Nur für einen Abgeordneten sieht einfach die Situation etwas anders aus. Der Abgeordnete Helmut Kohl setzt Gesetze, an die sich jedermann in Deutschland halten muss. Wenn man dann selber systematisch vorsätzlich gegen diese Gesetze verstößt und das auch weiter tun will, indem man immer noch nicht die Namen nennt, trotz der Rechenschaftspflicht nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dann kann man nicht Mitglied dieser gesetzgebenden Versammlung bleiben. Es ist ganz selbstverständlich: wir reden hier nicht von Fehlern und Fahrlässigkeiten. Die passieren jedem Menschen. Auch jedem Abgeordneten kann es passieren, dass er mal im Straßenverkehr gegen ein Gesetz verstößt. Hier reden wir aber über systematische, erhebliche Verletzungen der Verfassung, und das kann dann nur zu der entsprechenden Konsequenz führen.

    Heinlein: Helmut Kohl, heute Zeuge im Untersuchungsausschuss. Wir sprachen mit Guido Westerwelle, dem FDP-Generalsekretär. - Herr Westerwelle, ich danke für dieses Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: Interview als RealAudio