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Versöhnung mit der Vergangenheit

16 Jahre lang porträtierte die französische Journalistin Judith Perrignon für die Tageszeitung "Libération" Menschen und ihre Lebenswege. Jetzt hat sie ihren ersten Roman geschrieben. In "Kümmernisse" erzählt die Autorin von enttäuschter Liebe und dem Versuch, dem eigenen Schicksal zu entkommen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 20.01.2012
    Ein kleiner Park im 11. Arrondissement von Paris. Dort, wo sich heute Eltern und Kinder vom lärmenden Verkehr der rue de la Roquette erholen, erinnert nur noch ein Portal und eine Hinweistafel an die Geschichte des Ortes. Fast 140 Jahre lang stand hier das Frauengefängnis La Roquette, in dem noch bis ins 20. Jahrhundert guillotiniert wurde, in dem dann die deutschen Besatzer Résistance-Kämpferinnen internierten und das schließlich in den frühen 70er Jahren abgerissen wurde. Ausgehend von diesem historischen Ort beginnt die Autorin Judith Perrignon, uns die fiktive Geschichte der Insassin Héléna Danec zu erzählen: 1967 wird die Zwanzigjährige nach einem Raubüberfall auf ein Schmuckgeschäft gefasst. Den Namen ihres flüchtigen Komplizen und Liebhabers gibt sie nicht preis, auch als sie Monate später im Gefängnis ihre Tochter Angèle zur Welt bringt. Die kleine Angèle wächst bei der Großmutter Mila auf, bis Helena nach fünf Jahren entlassen wird. Sie nimmt das Kind zwar zu sich, findet aber weder zu ihrer Tochter noch zum eigenen Leben eine Beziehung.

    "Héléna mauert sich in ihrem Schweigen ein, gegenüber der Polizei und dem Gericht, aber auch gegenüber ihrer Mutter, die von ihr verlangt, endlich ihr eigenes Kind anzunehmen. Das Gefängnis, dessen Zerstörung ich zu Beginn beschreibe, wird zu einer Metapher der Gefängnisse, in denen wir uns selbst einschließen. Wir sind alles Gefangene: einer Epoche, einer Familie, einer Kindheit. Jede der Figuren berichtet von seinem eigenen Gefängnis und vom Versuch, sich daraus zu befreien."

    Auch dem Leser erschließt sich nur über die Berichte Dritter Stück für Stück die Wahrheit über Hélénas Schweigen und über die Liebe, die sie einst mit ihrem Komplizen verband. Da ist Hélénas Mutter Mila, eine alleinstehende ehemalige Varieté-Tänzerin, die in Briefen ihre Tochter dazu bewegen will, ihr Schweigen zu brechen. Und außerdem meldet sich Victor zu Wort, ein früherer Gerichtsjournalist, der den Prozess gegen Héléna verfolgte und den ihr Schicksal nicht loslässt. Er erklärt sich bereit, als Bindeglied zu fungieren, über das der flüchtige Komplize und Kindsvater Héléna die Beute des Überfalls zuspielt. Eine Varieté-Tänzerin, die von ihrem Geliebten verlassen wurde, ihre räuberische Tochter, der dasselbe Schicksal widerfährt, ein quälendes Schweigen und ein Ex-Journalist, der sich endlich als Held beweisen will? Diese Zutaten könnten Judith Perrignons Roman "Kümmernisse" schnell zu einer melancholischen Dokumentation der unerfüllten Sehnsüchte machen.

    "Natürlich ist ein Buch mit dem Titel 'Kümmernisse' nicht besonders ausgelassen. Dennoch nehmen alle Figuren früher oder später ihr Schicksal in die Hand. Es sind keine Opfer ihres eigenen Lebens. Die Großmutter Mila wollte im Variété tanzen, die Mutter Héléna wollte lieben, der Journalist Victor will sich etwas beweisen, und die Tochter Angèle tut endlich das, was ihre Mutter nie getan hat. Sie macht sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater. All das bringt zwar Kümmernisse mit sich. Aber alle Figuren beweisen auf ihre Weise Stärke."

    Héléna lehnt nicht nur ihr Leben, sondern ebenso sehr ihre Rolle als Mutter ab. Bis zu ihrem Tod meidet sie den Kontakt zu ihrer Tochter Angèle, verschweigt die Wahrheit über den Überfall und ihren flüchtigen Komplizen. Judith Perrignon zeigt Héléna dabei nicht als schuldige Rabenmutter, sondern als starke Frau, die sich nach dem Scheitern der einen großen Liebe bewusst dazu entschieden hat, sich vom Leben abzuwenden.

    "Als Héléna stirbt, beschließt Angèle, herauszufinden, wer diese Frau war, bevor sie ihre Mutter wurde. Victor, der Journalist, der den Prozess beobachtet, sagt ihr: 'Nicht Sie waren es, die ihre Mutter gehasst hat, sondern das Leben als solches.' Ihr Mann war verschwunden, als sie im Gefängnis das Kind bekam - sie hatte die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren, ihre Träume waren zerplatzt. Héléna lehnt die Realität einfach ab, aber ohne ihrem Kind dabei aktiv weh zu tun, ganz im Gegenteil: Sie schickt Angèle sogar in ein Pensionat, um ihr ihr eigenes Leid zu ersparen. Die Ambiguität der Rolle als Frau und Mutter hat mich sehr interessiert. Besonders, weil die Gesellschaft diesen Zwiespalt entschieden ablehnt."

    Im Mittelpunkt dieses verschlungenen Romans steht die Suche Angèles nach ihrem verschollenen Vater Tom und nach den Hintergründen des missglückten Überfalls, der ihre Mutter zuerst ins Gefängnis und dann ins Abseits ihres eigenen Lebens führte. Mithilfe des Journalisten Victor findet sie ihren Vater schließlich nach einer spannend erzählten Suche in einem Jazz-Club bei New York. Hier löst Angèle schließlich das Geheimnis der Trennung ihrer Eltern, und lüftet so zugleich die Tabus ihrer eigenen Vergangenheit.

    "Am Ende kommt der Mann zu Wort, der vor 40 Jahren, kurz vor Hélénas Verhaftung, abgehauen ist. Er erklärt, dass er damals vor der Liebe und vor der Verantwortung geflohen ist. Er hatte einfach andere Pläne für sein Leben. Dennoch ist Tom nicht der Schuldige. Denn es ist doch oft so, dass eine Liebe daran scheitert, dass man nicht das gleiche Tempo hat, weil die Liebe ihren Platz nicht findet, die Umstände und den richtigen Augenblick - eben das, was es braucht, damit sie sich entfaltet. Die beiden haben sich geliebt, aber nichts daraus gemacht."

    Über weite Strecken überzeugt dieser Roman über die Macht einer großen Liebe durch eine durchaus nüchterne und perspektivisch raffinierte Beschreibung des Geschehens, auch dann, wenn die teils verschwommene Form zwischen Briefroman, Fantasie- und Situationsbeschreibungen die Lektüre erschwert. Judith Perrignon erschreibt sich die Aufmerksamkeit ihrer Leser durch die äußerst leise und detektivisch ambitionierte Entblätterung des alltäglich erscheinenden fait divers eines Raubüberfalls. Dahinter steckt nichts Geringeres als die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und der unbedingte Wille, sich aus dem eigenen Leben wie aus einem Gefängnis zu befreien. Der kleine Berliner Wagenbach Verlag hat hier wieder eine dieser kleinen Geschichten noch unbekannter Autoren aus Frankreich veröffentlicht, hinter denen sich im besten Fall die großen Geschichten des Lebens verstecken.

    Judith Perrignon: Kümmernisse.
    Wagenbach 2011, 181 Seiten, Preis: 18,90 Euro