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Versorgungsengpässe
Das Alltagsleid der Venezolaner

Kaum Grundnahrungsmittel in den Supermärkten, schlechte Versorgung in den Krankenhäusern und eine Hyperinflation: Die Engpässe machen den Venezolanern schwer zu schaffen. Viele sind verzweifelt und werden aggressiv, wenn es um die Frage geht, wer die Schuld für die Misere trägt.

Von Burkhard Birke | 07.08.2017
    Eine Kühltruhe in einem Supermarkt in Caracas
    Fleisch ist durchaus zu finden in den Supermärkten. Was fehlt sind Dinge wie Brot, Mehl, Öl, Reis, Zahnpasta, Klopapier, Shampoo. (Deutschlandradio / Burkhard Birke)
    Seit halb fünf Uhr in der Früh steht Carlos Schlange. Die Frustration steht dem hageren Mittfünfziger ins Gesicht geschrieben. Um elf hat er noch nicht einmal eine Wartenummer ergattert. Harina Pan, das für das Nationalgericht Arepas unerlässliche Maismehl wird heute verkauft, seit Tagen mal wieder. José zählt zu den wenigen Glücklichen.
    "Schrecklich: Seit vier Uhr habe ich in der Schlange gewartet – aber ich habe es geschafft. Die Lage ist kritisch: Wir müssen um vier Uhr aufstehen, um etwas zu essen zu bekommen. 1.700 Bolivar habe ich für zwei Pakete gezahlt."
    Spekulanten nutzen die Lage aus
    Bei den Spekulanten auf der anderen Straßenseite muss man das Zehnfache zahlen: den Wochenlohn eines Arbeiters. "850 Bolivar kostet ein Kilo Maismehl, die Kapitalisten verkaufen es für 10.000 oder 12.000 Bolivar. Das ist eines der Dinge, die geregelt werden müssen."
    Und zwar durch die verfassungsgebende Versammlung, glaubt Miguel. Der Regierungsanhänger leidet selbst. Wer aber trägt die Schuld? Die Frage explodiert wie eine Bombe in der Warteschlange.
    "Die Opposition ist schuld - das sind die gleichen wie eh und je, schon seit Simon Bolivar geht das so. Die ganze Welt soll erfahren, dass die einen Wirtschaftskrieg führen. Diese Regierung ist schlecht." Fast kommt es zu Handgreiflichkeiten. Not und Ungerechtigkeit machen aggressiv, erhöhen die Spannungen zwischen den verfeindeten Lagern.
    Es fehlt an Öl, Zucker, Mehl, Brot und Milch
    Öl, Zucker, Mehl, Brot, Milch sind kaum oder nur zu horrenden Preisen zu finden. Die Folge: Selbst Bürger aus der Mittelschicht können sich nicht mehr satt essen. "22 Kilo habe ich abgenommen. Die Hose rutscht! Ich versuche zu essen so gut es geht, aber es gibt nichts. Meine Frau hat auch 18 Kilo abgenommen, weil es kein Essen gibt, es wird hierzulande nichts produziert."
    Dieses Rentnerehepaar leidet extrem: Der Durchschnittsvenezolaner hat sechs bis acht Kilo durch die Krise des letzten Jahres abgenommen, sagt der Soziologe Trino Marquez. Einigen schadet das durchaus nicht! Der absolute Hohn freilich ist, wenn Delcy Rodriguez, die Präsidentin der Verfassungsversammlung behauptet:
    "In Venezuela gibt es keinen Hunger, sondern Willenskraft, Entschlossenheit und Mut, das Land zu verteidigen. Ihr Regierungen von der Rechten hört zu: Hier gibt es keine humanitäre Krise, hier gibt es Liebe. Hier gibt es nur eine Krise einer faschistischen Rechten, die ein freies und unabhängiges Volk zerstören will. Das ist die einzige Krise, die wir haben, und wir werden sie lösen. "
    Der einzige stabile Preis ist der Kraftstoff
    Wie? 50, 60 andere sagen gar 70 Prozent der Lebensmittel muss Venezuela importieren, sogar die Hälfte seines Benzins mangels eigener Raffineriekapazität. Die Regale der Supermärkte sind keineswegs leer: Schnaps, Dosen, Chips und Fleisch sind durchaus zu finden. Brot, Mehl, Öl, Reis, Zahnpasta, Klopapier, Shampoo sind jedoch meist Fehlanzeige. An die Preisschilder werden schnell ein paar Nullen gehängt. Gezahlt wird mit Karte: Mehr als 10.000 Bolivar spuckt kein Geldautomat mehr aus. Damit kommt man nicht weit: Eine kleine Flasche Wasser kostet 1.244 Bolivar. Dafür kann man sein Auto vier Mal mit Super volltanken. Der einzige stabile Preis ist der Kraftstoff: sechs Bolivar je Liter Super.
    Ein Mann fährt mit einem Einkaufswagen durch einen Supermarkt in Caracas
    Die Hyperinflation macht den Venezolanern zu schaffen. An die Preisschilder werden schnell ein paar Nullen gehängt. (Deutschlandradio / Burkhard Birke)
    "Es wird geschätzt, dass die venezolanische Regierung den Benzinverkauf mit 20 Milliarden Dollar pro Jahr subventioniert. Damit könnte man die Straßen und Infrastruktur verbessern und vor allem die dringend nötigen Investitionen in Schulen und Krankenhäuser bezahlen", kritisiert der Soziologe Trino Marquez von der Universidad Central.
    Schlechte Versorgung in den Kliniken
    Ein Besuch im einst renommierten Hospital de Ninos untermauert die These. "Einst hatten wir 480 Betten. 2013 waren nur noch 170 belegbar, jetzt sind es noch weniger", berichtet einer der Ärzte. Nutzlos gewordene Inkubatoren stapeln sich auf der Neugeborenen Station: Nur zwei Babys können behandelt werden. Alles, was wir benötigen, für den OP, das ganze medizinische Material sollten wir in ausreichender Menge und guter Qualität bekommen. Weder in dieser noch irgendeiner anderen Klinik Venezuelas klappt jedoch die Versorgung."
    Die Patienten müssen teilweise ihr eigenes Essen mitbringen. Ein schwacher Trost, dass die Behandlung für alle gratis ist.
    Die Menschen sind verzweifelt. Selbst in den klassischen Hochburgen des Sozialismus, in Problemvierteln wie Petare steigt der Druck im Kessel. Hier dürfen viele Familien pro Monat zwar ein sogenanntes CLAP, ein Grundversorgungspaket mit Öl, Zucker, Mehl und Bohnen zum Vorzugspreis kaufen, vorausgesetzt, sie haben sich als Wähler und mit dem Carnet Patria registriert. Aber: "Weder Zahnpasta noch Medizin gibt es, nicht genug zu essen für die Kinder, in meinem Fall für die Enkel. So was gibt es nirgendwo. Das ist eine getarnte Diktatur."
    53 Jahre lebt Marco schon in Petare, aber so schlimm war es nie, sagt er.