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Verständnis für beide Seiten

Aggression und Gewalt machten 2006 den Unterricht in der Neuköllner Rütli-Schule unmöglich. Damals kam manches in Bewegung: Debatten über Jugendgewalt, die Integration von Zuwanderern und die Qualität des deutschen Schulsystems. Aber: Hat sich auch etwas bewegt? Wer das Buch von Ursula Rogg liest, muss diese Frage wohl verneinen. Ursula Rogg ist Kunstlehrerin an einem Gymnasium in Berlin, Nord Neukölln. Jeanette Cwienk hat ihr Buch gelesen.

15.09.2008
    "Ich habe eine zehnte (Klasse), in der es zwanzig Minuten dauerte, bis ich guten Morgen sagen konnte. Um 8.19 Uhr kommen immer noch Schülerinnen und Schüler. Sie begrüßen ihre Klassenkameraden, ohne sich auch nur nach mir umzudrehen. Die Mädchen küssen sich, links und rechts, stehend fangen sie sofort an, zu plaudern. Die Jungen küssen sich auch, Handschlag in der Manier von Preisboxern. Sie sind noch lauter. Es ist acht Uhr zwanzig. Ich lasse meinen Schlüsselbund auf den Tisch fallen. Guten Morgen, rufe ich. Ich sehe sie mir an - was können wir tun? Wir. Hier. Miteinander. Tun."
    Diese Frage wird sich Ursula Rogg in ihren vier Unterrichtsjahren an dem Neuköllner Gymnasium immer wieder stellen. Bevor die Kunstpädagogin überhaupt Unterricht abhalten kann, muss sie die Aufmerksamkeit der Schüler geradezu erkämpfen. Immer wieder, in jeder Klasse.

    "Ich schnappe mir den nassen Schwamm, der immer wieder durch den gesamten Raum fliegt. Dann nagele ich den Schwamm an die Wand, dass der Putz fliegt. Die schöne gelbe Wand. Stille herrscht jetzt in der Klasse, eine kurze, wunderbare Stille."
    Unterricht in Berlin-Neukölln, so schreibt Ursula Rogg, heißt Improvisation. Als die Kunstlehrerin von einer Schule im Osten Berlins an das Gymnasium in Neukölln versetzt wird, freut sie sich zunächst, aus dem entlegenen Stadtteil weg zu kommen. Anfängliche Bedenken, im Problem-Viertel Neukölln zu unterrichten, wischt sie beiseite. Zumal ihr der zuständige Mitarbeiter vom Senat für Bildung versichert, es handele sich bei der neuen Schule um eine gute Adresse. Doch in einem Bezirk, der im Berliner Sozial-Atlas mit dem Wort "Verslummung" beschrieben wird, in dem mehr als die Hälfte aller 15-Jährigen von Sozialhilfe leben, in dem türkische und arabische Geschäfte das Straßenbild dominieren, verläuft das Leben in einem ständigen Alarmzustand. Und der Unterricht ebenfalls - selbst an einem Gymnasium sind ständige Aggressionen seitens der Schüler an der Tagesordnung.

    "Dann kam es eben vor, dass da ältere Schüler dann mich und auch andere Kollegen richtig attackiert haben. Also die kamen dann irgendwie um die Ecken geschossen, rannten an einem vorbei und schrien einem ganz laut ins Ohr im Vorbeilaufen. Das waren also richtig gezielte Angriffe."
    Von der Schulleitung kommt wenig Hilfe. Und im Kollegium herrschen statt Solidarität Misstrauen und Missgunst, eine - so berichtet Rogg - "Das-muss-man alleine-schaffen-Mentalität."

    "Man muss ja wissen, dass niemand dort eigentlich freiwillig war. Also für mich war immer prägend die Aussage: Wir sind eine gute Schule, wir haben nur die falschen Schüler. Man wollte sich nicht so richtig einlassen, auf die, die da waren."
    Ihre Kollegen beschreibt die Kunstlehrerin als erschöpft, ausgelaugt und gefangen in einem Schulsystem, dass die Realitäten von Schulen in Problembezirken einfach ignoriert. Pädagogische Tipps aus dem Lehramtsstudium helfen in einer Schule in Berlin Neukölln nicht weiter.

    "In der Ausbildung lernten wir: den Schüler da abholen, wo er ist. Wo ist er denn? Wo ist denn Canan, die nach den Sommerferien mit Kopftuch in die Schule kommt und fast nicht mehr spricht? Wie und wo soll ich sie abholen?"
    Es gibt Klassen, in denen 70 Prozent der Schüler keine Empfehlung fürs Gymnasium haben. In Berlin steht der Wille der Eltern über den Einschätzungen der Grundschullehrer. Noch in der Oberstufe, so findet Ursula Rogg heraus, übersetzen und lösen viele Schüler die Aufgaben zunächst in ihrer Muttersprache, um sie dann wieder ins Deutsche zu übersetzen. Wie soll da ein Abiturlehrplan umgesetzt werden, fragt Rogg.

    "Fakt ist, dass die Eltern ihren Kindern nicht helfen können bei den Schulaufgaben. Und dass sie ihnen auch nur sehr eingeschränkt helfen, was Dinge wie Pünktlichkeit, Schultasche packen, die richtigen Sachen dabei haben angeht. Die Eltern lassen sich ganz wenig blicken an der Schule und das hat den einfachen Grund, dass viele Eltern uns gar nicht verstehen. Also, dass wir keine gemeinsame Sprache sprechen."
    Eine Klassenfahrt zu organisieren wird angesichts sprachlicher und kultureller Barrieren zu einer Mammut-Aufgabe. Doch es gelingt - auch die Mädchen dürfen mit. Es sind Erfolge wie dieser, die Ursula Rogg Kraft geben, weiter zu machen.

    Dennoch - bereits im zweiten Schuljahr fühlt sich die Lehrerin immer öfter ausgelaugt und erschöpft. Ein erster Antrag auf Versetzung an eine andere Schule wird abgelehnt. "Es gibt keinen Ersatz." Im dritten Jahr wird die Schule zu einem offenen Ganztags-Gymnasium umgewandelt. Doch das an sich gute Vorhaben geht mangels ausreichender Vorbereitung nach hinten los.

    "Es gab keine Schulspeisung. Weder ein Ort in Ruhe zu essen, noch einen Ort in Ruhe wirklich zu lernen, noch überhaupt so was wie ein Ruheort. Und das hat zu einem wahnsinnigen Chaos geführt. Die Schüler haben unheimlich viel Zeit in den Treppenhäusern verbracht, vor der Schule, in den Toiletten. Überall wo eben so kleine Nischen sind, wo man für sich sein kann und Quatsch machen kann."

    Die eingestellten Betreuer sind überfordert. Die Krankmeldungen im Kollegium häufen sich. Die Folge: noch mehr unterrichtsfreie Zeit für die Schüler und immer mehr zusätzliche Vertretungsstunden, die den verbliebenen Lehrern aufgebürdet werden. Die Schulbehörde reagiert wie immer: gar nicht.

    "Ein Blick auf die Krankmeldungen müsste alarmieren. Wer evaluiert diese Zahlen? Müssten sie nicht dafür sorgen, dass ein ganzes Team ausrückt, um Diagnosen zu stellen, um Hilfe zu leisten? Niemand kommt."
    Die Kunstlehrerin wird aufgerieben durch immer neue Aufgaben und Projekte. Nach einem Exkursionswochenende erleidet Ursula Rogg einen Hörsturz, ihr Gehörbild bleibt dauerhaft eingeschränkt. Als sich auch noch Atemprobleme einstellen, steht ihr Entschluss fest: sie muss weg.

    "Ich habe mich einfach nicht stabil genug gefühlt - gesundheitlich und nervlich, um an dieser Schule weiter gute Arbeit machen zu können und auch gut leben zu können. Und von der inneren Einstellung - ich würde der Schulleitung schon auf jeden Fall vorwerfen, dass die bürokratische Abwicklung der Dinge zu oft Vorrang hatte, vor pädagogischen und inhaltlichen Erwägungen."
    Ursula Roggs Buch "Nord Neukölln" ist eine persönliche, sehr bildhaft verfasste Beschreibung des Alltags einer Schule in einem sozialen Brennpunkt. Eine Schwäche an "Nord Neukölln" ist das Festhalten an der Chronologie der Ereignisse. Denn diese und auch die Gedanken der Pädagogin wiederholen sich. Dennoch: Bei aller Kritik schreibt sie humorvoll und mit großem Verständnis für beide Seiten - Lehrer, wie Schüler. Denn beide sind die Leidtragenden eines Schulsystems, das die Lebenswirklichkeiten der Einwanderer-Gesellschaft in den deutschen Großstädten bislang völlig ignoriert.

    Jeanette Cwienk über: Nord Neukölln. Ein Frontbericht aus dem Klassenzimmer. Ein Buch von Ursula Rogg, das im Heinrich Hugendubel Verlag erschienen ist. Mit 224 Seiten kostet es 19,95 Euro