Freitag, 19. April 2024

Archiv


Versteck in der Villa

Die Hausangestellte Rosa aus Buenos Aires lernt den Bauarbeiter José kennen. Als ihre Arbeitgeber auf Reisen gehen, zieht José ins Haus - und wird zum Mörder. Mit "Stille Wut" zeichnet Sergio Bizzio ein bitter realistisches Sittenbild der argentinischen Gesellschaft.

Von Katrin Hillgruber | 29.12.2010
    Diesen Sommer kam der Film "La Nana – Die Perle" des jungen chilenischen Regisseurs Sebastián Silva in die deutschen Kinos. Sein grimmiger Witz begeisterte das Publikum. Silva drehte mit der Handkamera beinahe ausschließlich in einer großbürgerlichen Villa in Santiago de Chile. Hier führt die Hausangestellte Raquel das Regiment, kongenial verkörpert von Catalina Saavedra. Die verhärmte Junggesellin hat kein eigenes Privatleben, sondern opfert sich seit Jahren für die kinderreichen Herrschaften auf. Jedes Rufen, jedes Klopfen im Haus kann eine neue Aufgabe bedeuten, sodass das Dienstmädchen in weißer Schürze nie zur Ruhe kommt. Als sich ihr Gesundheitszustand durch den Dauerstress rapide verschlechtert, will "ihre" Familie eine Hilfe für sie einstellen. Das aber weiß Raquel mit allen Tricks und Gemeinheiten zu verhindern.

    Der Roman "Stille Wut" des Argentiniers Sergio Bizzio wirkt wie eine düstere Kontrafaktur zu dem Film "La Nana". Auch die 25-jährige Hausangestellte Rosa aus Buenos Aires ist ihren Arbeitgebern, Herrn und Frau Blinder, stets zu Diensten. Eines Tages lernt sie im Supermarkt den Bauarbeiter José María kennen, allgemein María genannt. Ab da verbindet die beiden ein unheimliches Schicksal.

    María hatte schon mit vielen Huren geschlafen und auch mit Jungfrauen, aber noch nie hatte er diese Mischung aus glühender Leidenschaft und Unschuld erlebt, wie Rosa sie an den Tag legte.

    Der 40-Jährige José María ist schnell und sehnig wie ein Raubtier und ein absoluter Einzelgänger. Nachdem die offenherzige Rosa und ihr wortkarger bis verschlagener Liebhaber monatelang einen Großteil ihres Salärs für Schäferstündchen im Hotel aufbringen müssen, sind sie überglücklich, als die Blinders auf Reisen gehen. Selbstredend darf Rosa niemandem Zutritt zur Villa gewähren, deren labyrinthische Zimmerflucht sich über vier Etagen erstreckt. Allein in der Mansarde wird María, der ungebetene Gast, sieben Schlafzimmer zählen.

    Als die Hausbesitzer überraschend früher zurückkehren, muss sich María verstecken. Seine Freundin nimmt an, dass er heimlich die Villa verlassen hat. Doch sie täuscht sich, und ab diesem Moment wird aus Bizzios stark dialogischem Roman, der deutlich den Drehbuchautor und Regisseur spüren lässt, ein beklemmendes Kammerspiel in der personalen Erzählweise. Der Autor schlüpft in die entlegensten Hirnwindungen seines solipsistischen Helden, der sich unbemerkt in der Mansarde einquartiert. Das Versteck kommt ihm wie gerufen.

    Den Vorarbeiter hatte María ohne Wut getötet. Er hatte es, ein paar Stunden nach dem Rauswurf, eher mit der Erinnerung an die Wut getan; so als wäre die Wut verraucht, um ihn einer neuen, aus ihr erwachsenen Vernunft zu überlassen. Er hatte die Tat geplant. Nicht die Einzelheiten, nicht die Durchführung – die hatte er der Improvisation überlassen -, aber sein Ziel war es gewesen, den Mann zu töten.

    Weitere Morde folgen. Denn María überwacht die ahnungslose Rosa, indem er ihr hinterherschleicht und sich über ein zweites, weitgehend ungenutztes Telefon regelmäßig bei ihr meldet. Eines Abends nimmt der missratene Sohn des Hauses, ein Alkoholiker, den Besitzanspruch der herrschenden Klasse allzu wörtlich. Als er Rosa vergewaltigt, schlägt der Eindringling aus dem Hinterhalt zu.

    Er verspürte weder Gewissensbisse noch Erleichterung. Ganz im Gegenteil: Er war verärgert. Er hätte gerne mit Rosa geredet, ihr gesagt, dass er der Mörder war und dass er es für sie getan hatte. Er erwartete nicht, dass sie in Jubel ausbrechen würde, aber er hätte in ihrem Gesicht (neben dem Schrecken) zu gern die Erleichterung gesehen, die er nicht empfand. Es war kein Wahn, sondern ein irrationaler Wunschtraum, die Folge seines Lebens als Gespenst; er durfte nicht sprechen, nicht gesehen werden, nicht das geringste Geräusch machen, und so ging seine Fantasie mit ihm durch.

    Offenbar hält María Rosa für zu labil, um sie einzuweihen. Durch die Einsamkeit und erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit verändert er sich. Er verbringt die Tage lesend und wird zu einer Art heiligem Mörder. Selbst Rosas Schwangerschaft, die er nicht verursacht hat, lernt er zu akzeptieren.

    Seine Verehrung für sie war so groß, dass er zum Mystiker geworden war, damit er ihre Existenz leugnen konnte, ohne daran zugrunde zu gehen.

    Spätestens, als sich María heimlich mit Rosas kleinem Sohn anfreundet, fragt man sich allerdings, wie er das übermenschliche Kunststück vollbringt, niemals von den anderen Hausbewohnern gehört zu werden.

    Sergio Bizzio wurde 1956 in Villa Ramallo geboren und lebt heute in Buenos Aires. Mit "Stille Wut" legt er einen in seiner Heimat mehrfach prämiierten Roman vor, in dem sich stilistische Eleganz und atemlose Spannung durchgehend die Waage halten. Zugleich zeichnet das Buch ein bitter realistisches Sittenbild der argentinischen Gesellschaft: Die Reichen verschanzen sich vor den Armen, den Karton- und Lumpensammlern, "Cartoneros" genannt. Die sozialen Klassen bleiben undurchlässig, die Demokratie scheint sich nach den Jahren der Diktatur nicht sehr tief in den Köpfen verankert zu haben.

    Die Verfilmung des Romans "Stille Wut" soll demnächst auch in Europa zu sehen sein. Vor allem die drastische, erschütternde Schlussszene ist mehr als kinoreif: Rosa und José María sehen sich zwar wieder, doch es ist zu spät.

    Sergio Bizzio: "Stille Wut". Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 240 Seiten, 19,99 Euro.