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Verstehen, erklären, erinnern

Nach seinen Dokumentarfilmen über die Verbrechen des Pol-Pot-Regimes setzt sich Rithy Panh in seinem Buch mit der eigenen Geschichte auseinander. Gegen die zweite "Auslöschung", die des Schweigens über die Leiden der Opfer und die Schuld der Mörder, schreibt er an.

Von Ralph Gerstenberg | 25.03.2013
    Rithy Panh hat diesen Mann nie gehasst, der ihm gegenübersitzt und vor laufenden Kameras unglaubliche Dinge sagt. Die Rede ist von Kaing Guek Eav, dem Leiter der berüchtigten Folterzentrale S21, den alle Duch nannten und der heute noch immer so genannt werden will wie zu Zeiten der mörderischen Herrschaft der Roten Khmer - einfach: Duch. Dabei hätte Rithy Panh allen Grund, diesen lächelnd lügenden Mann zu hassen. Panh war elf Jahre alt, als die Roten Khmer 1975 in Phnom Penh einmarschierten, seine Familie und ihn sowie die gesamte Stadtbevölkerung in Arbeitslager deportierten, wo sie dem Hunger, allen erdenklichen Krankheiten und dem unfassbaren Terror des Pol-Pot-Regimes ausgesetzt waren. Doch Rithy Panh will, dass Duch spricht, dass er durch seine Worte kenntlich wird.

    "Von Duch wird oft gesagt, er sei ein Monster. Aber das ist er nicht. Es wäre sehr viel einfacher, wenn man das sagen könnte, dann müsste man sich weniger damit auseinandersetzen, dass er eine Verantwortung trägt. Er ist ein Mensch wie wir, aber er hat eine Entscheidung getroffen, die anders ist als die der Anderen. Man kann diese Menschen nicht behandeln, als würden sie keine Verantwortung tragen, denn diese Verantwortung definiert sie als Person."

    Die Begegnungen mit dem Folterchef bei den Dreharbeiten für den Dokumentarfilm "Duch – Der Schmiedemeister der Hölle" kontrastiert Rithy Panh mit seiner eigenen Geschichte und der seiner Familie, die er fast vollständig in den Jahren der Schreckensherrschaft der Roten Khmer verloren hat. So stehen die tragische Odyssee und der Überlebenskampf eines Kindes neben der Auseinandersetzung mit einem der Verantwortlichen für den Massenmord am eigenen Volk. Die Wahrheit wird Rithy Panh aus dem Mann, der sich in den mehr als dreißig Jahren nach dem Genozid in Kambodscha zum bibeltreuen Christen gewandelt hat, nicht herausbekommen. Duch, der sich als "Techniker der Revolution" sieht, will von den Folterschreien, dem Blut, den herausgerissenen Fingernägeln, den nächtlichen Massenexekutionen auf den Killing Fields vor den Toren Phnom Penhs nichts gesehen, nichts gehört haben.

    Duch lacht "aus voller Kehle". Ich finde dafür keine anderen Worte. Beim ersten Mal zucke ich zusammen. Er fängt sich wieder. Wie das? Er hat gefoltert; Folterer ausgebildet; indoktriniert; die Vernichtung organisiert und er lacht noch? Ja, dieser Teufel lacht über das, was er die "Lügen" der anderen nennt – der Verhörer und Wächter, die die Folter gestehen. Er lacht wie ein Kind. Nein, wirklich, er hatte nie gehört, dass man einem Mann, der an ein Metallbett gekettet war, Stromschläge versetzte. Er hat gearbeitet. Er hat vier Jahre in einer Welt verbracht, die mit Akten tapeziert war.

    In seinem Buch "Auslöschung" schildert Rithy Panh, wie er auf die Idee kam, einen Film über Duch zu drehen. Er wollte die Arbeit des 2006 eingerichteten Tribunals zur Untersuchung der Verbrechen der Roten Khmer unterstützen. Während der Befragungen beschlich Rithy Panh jedoch immer wieder der Verdacht, dass er von seinem Interviewpartner benutzt würde:

    "Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich ihm dabei helfen könnte, seine Verteidigung vorzubereiten, indem ich immer wieder mit ihm darüber spreche. Ich habe mich zum Teil als Coach, als Trainer für den Auftritt vor Gericht gefühlt. Er konnte mit mir seine Antworten üben. Später hat er vor Gericht einige Sätze wiederholt, die er vorher zu mir gesagt hat. Ich weiß nicht, ob das immer in die richtige Richtung geführt hat."

    Nach seinen Dokumentarfilmen über die Verbrechen und Folgen des Pol-Pot-Regimes ermöglicht das Buch "Auslöschung" Rithy Panh eine Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Geschichte. 1979, nach dem Sturz des Regimes, gelang ihm die Flucht über Thailand nach Frankreich, wo er bei Verwandten aufwuchs. Er schreibt von Entwurzelung, Einsamkeit und Selbstmordgedanken, von der Unzulänglichkeit des Wortes Trauma, das die unstillbare Trauer nur kategorisieren kann, von Schuldgefühlen, der Versuchung zu verdrängen, und der Suche nach einer "Befriedung der Seele", die nur über das Verstehen möglich ist.

    Ich glaube an die Arbeit in der Zeit, an die Arbeit der Zeit. Ich möchte verstehen, erklären, mich erinnern – und zwar genau in dieser Reihenfolge.

    Verstehen, erklären, erinnern – dafür sind auch die Worte der Täter notwendig, selbst wenn sie nicht die Wahrheit ausdrücken. Deshalb spricht Rithy Panh weiter mit Duch. In der Sprache äußert sich dessen menschenverachtende Ideologie. So ist das Buch von Rithy Panh auch ein Buch über die Sprache der Roten Khmer geworden:

    "Bei Victor Klemperer kann man nachlesen, wie die Sprache des Dritten Reiches funktioniert hat. Die Roten Khmer haben eine ähnliche Sprache entwickelt, die sehr einfach ist und die Ideologie direkt transportiert. So wurde zum Beispiel nicht mehr das Wort Hinrichtung benutzt, sondern ein Wort, das totale Zerstörung bedeutet, Auslöschung, das Zu-Staub-Werden."

    Gegen die zweite Auslöschung, die des Vergessens, drehte Rithy Panh seine Filme, dagegen hat er dieses Buch geschrieben. Verletzend sei das Schweigen, schreibt er, das Schweigen über die Leiden der Opfer, über die Schuld der Folterer und Mörder. Deshalb ist sein Buch so wichtig, weil es der Auslöschung entgegen wirkt, den Massenmord im Detail beschreibt und die verheerende Wirkung einer Ideologie zeigt, die lange Zeit auch im Westen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Das Rote-Khmer-Tribunal hat den Cheffolterer Duch nach Berufung des Staatsanwaltes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Bei aller Unzufriedenheit mit der Arbeit des Tribunals spürt Rithy Panh, dass der Prozess etwas bewegt, dass Kambodscha dabei ist, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Seit drei Jahren wird der Genozid auch in der Schule behandelt – nach dreißig Jahren des Verschweigens, Verdrängens, Vergessens:

    "Viele Kinder wissen heute nur, dass ihre Großeltern unter den Roten Khmer gestorben sind, aber sie wissen nicht warum. Sie wissen nicht, ob sie kriminell waren und deshalb umgebracht wurden. Das heißt, sie müssen wissen, was passiert ist, dass ihre Großeltern unschuldig waren. Wenn sie das wissen, kann es vielleicht einen inneren Frieden geben - für sie und für ihre Eltern."

    Rithy Panh: Auslöschung. Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet
    Hoffmann und Campe Verlag, 238 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-45550-264-0