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Verstrahlt - verseucht - vergiftet
Eine Erkundung der schlimmsten Orte der Welt

Andrew Blackwell ist nach Tschernobyl gefahren, hat ein kanadisches Ölsandtagebaugebiet erkundet oder den Pazifischen Müllwirbel durchsegelt. Im Laufe seiner Reisen lernt Blackwell die Widersprüche auszuhalten, die ihm begegnen. Und so entdeckt er auch an den miserabelsten Orten, womit vor Reisebeginn am wenigsten zu rechnen war: Schönheit.

Von Tabea Soergel | 20.02.2014
    "Die Welt war schneller gewesen als ich. Ich ging auf die Suche nach einer radioaktiven Einöde und fand einen radioaktiven Garten vor. Ich ging auf die Suche nach dem Pazifischen Müllwirbel und entdeckte den Pazifischen Ozean."
    Der junge amerikanische Autor Andrew Blackwell hat ein klares Ziel: Er will an die Schauplätze weltweiter Umweltkatastrophen reisen und sich dort nicht wie ein Journalist umsehen, sondern wie ein Tourist – radikal subjektiv und pragmatisch. Könnte man zum Beispiel in der Sperrzone von Tschernobyl nicht auch eine Kanutour machen? Zwar gibt er dieses Freizeitvorhaben recht bald auf, entlockt aber durch seine arglosen Fragen seinem widerwilligen Führer Dennis ein verblüffendes Geständnis: Er selbst pflücke im verstrahlten Gebiet gern Pilze fürs Abendessen. Neben der Ukraine führt Andrew Blackwell seine eigenwillige Weltreise nach Kanada, in den Süden der USA, auf den Pazifik, nach Brasilien, Indien und China. Seinen vorgeblichen Plan, einen sogenannten Umweltkatastrophentourismus zu etablieren, nimmt man ihm als Leser zwar nicht ganz ab. Doch sein Bemühen um einen unvoreingenommenen, wohlwollenden Blick auf Weltgegenden, denen das Stigma des unaufhaltsamen Untergangs anhaftet, seine Streifzüge durch postapokalyptische Landschaften ohne jedes apokalyptische Raunen, erweist sich als großer Gewinn. Der Ton bleibt selbst im Angesicht größter Verheerung leicht. In diesen Momenten enthüllt sich Blackwells Talent fürs Bittersüße:
    "Guiyu. Der Gestank von heißem Lötzinn. Am Boden liegen Kondensatoren. Bauteile quellen unter einem geschlossenen Tor hervor. Handygehäuse sind zu meterhohen Haufen zusammengeharkt, wie Blätter im Herbst. Wir biegen um die Ecke. Drei Meter hohe Stapel graues Computerplastik wartet darauf, sortiert und recycelt zu werden. Sie sehen aus wie Haufen dreckigen Schnees, abgeladen von einem Schneepflug. Ein paar Männer schaufeln Heu von einem großen Lastwagen herunter und werfen es daneben zu einem Haufen auf. Es ist die zeitlose Geste des Heueinbringens. Aber das hier ist keine Heuernte: Die Männer schaufeln Platinen. Grüne, nackte quadratische Bündel fallen scheppernd neben den Lkw-Reifen und türmen sich dort auf."
    Reißerisch ist an diesem Buch nur der Titel. Die Zerstörung, die Blackwell vorfindet, beschreibt er wohltuend nüchtern, Fakten sind penibel recherchiert und verständlich, also im besten Sinne populärwissenschaftlich aufbereitet. Diesen sachlichen Teil konterkariert er mit Sequenzen, in denen er sich literarische Freiheiten herausnimmt: Sehr persönlich und mit großer Lakonie, gelegentlich flapsig, greift er Erlebnisse und Begegnungen vor Ort auf, die in ihrer Absurdität oft fiktional anmuten – etwa seine Morgenschicht nach einer durchzechten Nacht auf dem Forschungssegelschiff, mit dem er als Matrose zum Großen Pazifischen Müllteppich aufbricht:
    "Als ich nach vorn ging, um das Schiff zu überprüfen, fand ich George, ohnmächtig und mit offenem Hosenstall, in dem Netz unter dem Burgspriet. Der Sicherheitsgurt war ordnungsgemäß befestigt und George sah sonderbar glückselig aus, wie er da ausgebreitet im Netz lag, unter ihm der Ozean wie im Traum vorbeirauschend."
    Auf der Suche nach dem Einfluss desaströser Umbrüche
    Umweltkatastrophen sind nie monokausal, sondern unübersichtlich in ihrer Verkettung von Umständen, und einfache Lösungen gibt es nicht. Blackwell schildert dieses Geflecht von Ursachen in seiner Gesamtheit. Er benennt ausdrücklich die Verantwortlichen, verzichtet jedoch auf moralische Urteile und lässt stattdessen seine Rechercheergebnisse für sich sprechen. So entgeht er der Gefahr des erhobenen Zeigefingers, macht aber doch deutlich, wer schuld an der Misere ist. Er gibt aber auch unumwunden zu, wenn er, wie im Fall der Abholzung des brasilianischen Regenwalds, als Autor an einem komplexen System von Faktoren scheitert. Hält man sich wie er in einem Katastrophengebiet auf, liegt der Schatten der Katastrophe auf allem, was man dort erblickt. Blackwell macht sich auf die Suche danach, was in diesem Schatten gedeiht. Ihn interessiert das tägliche Leben unter dem Einfluss desaströser Umbrüche. Das wirkt nicht wie der Versuch, den Ernst der Lage zu kaschieren, sondern wie ein ständiger Balanceakt zwischen berechtigtem Fatalismus und trotziger Zuversicht – aufseiten Blackwells wie der Menschen, die er trifft.
    "Ein Taco-Verkäufer hatte seinen Wagen an der südöstlichen Seite der Valero-Anlage unmittelbar vor dem Zaun um die glänzende Halbkugel eines Tanklagers geparkt. Er erzählte, dass er Abfackelungen gesehen hatte, die so gewaltig waren, dass er die Hitze sogar hier außerhalb des Zauns noch spürte. Durch sein geöffnetes Fenster fragte ich ihn, ob er glaubte, dass die Luft aus der Anlage schlecht sei. ‚Natürlich ist sie das‘, antwortete er. "Sie stinkt fürchterlich." Von dieser Luft bekomme man alles Mögliche. Krebs zum Beispiel. Als ich ihm vorschlug, seine Tacos nicht ausgerechnet vor dem Valero-Zaun zu verkaufen, lachte er. "Irgendwie muss man seinen Lebensunterhalt ja verdienen", sagte er und reichte mir einen Taco al pastor, aufs Haus."
    "Schönheit" entdeckt der Autor auch an den miserabelsten Orten
    Ob der Autor über den ausgemergelten Boden einer texanischen Erdölhochburg wandert, auf dem Moped durch ein smogverdunkeltes Kohlerevier in China rast oder dem schmutzigsten Fluss Indiens stromabwärts folgt: In all diesen geschundenen Weltgegenden trifft er auf widerständiges Leben. Denn überall dort macht nicht bloß die Natur einfach weiter, überall dort sind auch Menschen zuhause. Andrew Blackwell hat eine spürbare Schwäche für Underdogs. Mehr noch als den "miserablen Orten", wie er sie nennt, gilt seine Liebe allerdings den Menschen. Vehement wendet er sich gegen Umweltschutzideen, die den Menschen außer Acht lassen, sowie gegen das in seinen Augen grundfalsche Ideal intakter, unberührter Natur. Seine essayistischen Reisebeschreibungen sind auch ein Plädoyer dagegen, die verwüsteten Regionen, die er besucht, von vornherein abzuschreiben. Andernfalls, heißt es einmal, "verstehe ich nicht, warum wir uns um eine Welt sorgen sollten, in der so viel Hässliches ist." Im Laufe seiner Reisen lernt Blackwell die Widersprüche auszuhalten, die ihm begegnen. Und so entdeckt er auch an den miserabelsten Orten, womit vor Reisebeginn am wenigsten zu rechnen war: Schönheit.
    "Ich kannte den Gestank, aber er war noch nie so schlimm gewesen wie an jenem Tag am Najafgarh-Kanal. Es stank so entsetzlich, dass ich eine Gänsehaut bekam und sich der Speichel in meinem Mund sammelte. Der Würgereflex suchte einen Ausweg. Ich versuchte flach zu atmen. Und dennoch. Ich blickte wieder über den Rand. Pflanzen wuchsen auf den Betonrändern des Kanals. Grüne, rundköpfige Papageien flogen über das dunkle Wasser. Tauben stolzierten über einen Vorsprung und tauchten hinein. Schmetterlinge flatterten in der Sonne auf. Flussabwärts sah ich Blumenbänder, die sich in den Kabeln über dem Kanal verfangen hatten, als Menschen sie in den Fluss werfen wollten. Sogar hier brachten die Menschen Opfergaben."
    Andrew Blackwell: "Willkommen im sonnigen Tschernobyl. Verstrahlt, verseucht, vergiftet - eine Erkundung der schlimmsten Orte der Welt"
    Verlag Ludwig, 384 Seiten, 19,99 Euro.