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Verstrickt in ihre Manien

Peer Hultbergs preisgekrönter Roman "Die Stadt und die Welt" war lange vergriffen, jetzt liegt er in einer neuen Version endlich wieder vor. In seinem unverwechselbaren Stil schreibt Hultberg über die Verstrickungen der Bewohner Viborgs, wo er aufwuchs und von dem er sich in diesem meisterhaften Buch freischreibt.

Von Peter Urban-Halle | 22.12.2008
    Peer Hultbergs "Die Stadt und die Welt" ist ein Buch, dessen hundert scheinbar unzusammenhängende Texte zwar im 20. Jahrhundert spielen, aber chronologisch ungeordnet nebeneinander stehen. Die Stadt, das ist Viborg im mittleren Jütland, wo Hultberg aufwuchs, ein Ort mit Landgericht, Garnison und Bischofssitz; in den römisch nummerierten Kapiteln werden die Lebensgeschichten von 284 Einwohnern vorgestellt. Als Vorläufer nannte Hultberg selbst die satirische Erzählung "Peder Paars" des dänischen Klassikers Ludvig Holberg und den mährischen Pädagogen Comenius, der einmal eine Stadt als moralisches Spiegelbild der Welt beschrieb.

    Das tut auch Peer Hultberg, allerdings zerteilt er diese Welt in Bruchstücke, um dann etwas Neues und Ganzes erstehen zu lassen. Seine Sprache scheint oft kalt und gefühllos, häufig benutzt er die Ellipse, das heißt, er lässt Wörter oder Satzteile aus, oder er wechselt abrupt die Perspektive. Damit hat er einen unverwechselbaren Stil geschaffen, der manchmal altertümlich oder sogar bürokratisch ist und sich dann wieder ganz alltäglicher Redewendungen bedient. Dass die Stadt die sonderbare Kunstsprache im Laufe von 90 Jahren kaum ändert - denn sie kann als die eigentliche Erzählerin bezeichnet werden -, verrät ihre geistig-moralische Verfassung. Jeder Ausbruch, jede Flucht wird bestraft, die Stadt duldet keine selbstverantwortlichen Menschen, keiner kann unabhängig sein Leben bestimmen.

    Zu den Regeln dieser Stadt gehören auch die klaren Standesunterschiede. Wir begegnen den Honoratioren und ihren ehrenwerten Gattinnen, wir treffen Handwerker und Händler, Arbeiter und Beamte und einen einsamen Kommunisten, der dummerweise Trotzkist wurde, weshalb die linientreue Mutter sich weigerte, an seinem Begräbnis teilzunehmen. Alle sind verstrickt in ihre Manien, ihre kleinen Gemeinheiten, ihre sogenannten Tugenden. Dabei kommt Hultberg ohne Kommentare aus, die Leute richten sich selbst. Jeder hat seine gesellschaftliche Rolle so verinnerlicht, dass er nicht einmal merkt, wie schlimm er dran ist.

    Hultberg musste, hat er im Gespräch gesagt, dieses Buch schreiben, um seinen dänischen Hintergrund endgültig hinter sich lassen zu können. Mit 37 Jahren habe er den Entschluss gefasst, sein Leben von Grund auf zu ändern. Damals verließ er die akademische Laufbahn. Er ging nach Zürich, um am dortigen C.-G.-Jung-Institut zu studieren, in Hamburg arbeitete er dann als Analytiker. Obwohl er seine beiden Berufungen, die Psychoanalyse und die Literatur, nach außen hin strikt voneinander trennte, schlugen sich seine Praxis-Erfahrungen in seinem Werk nieder, die Kritik warf ihm sogar vor, er "verkaufe das Schicksal eines Menschen für eine bloße Klangwirkung".

    Hultbergs erste - klangvolle - Übersetzungen bei Residenz in Salzburg fertigte die in Kopenhagen lebende Ursula Schmalbruch an, mit ihnen wurde er in Deutschland bekannt. Sie blieb eng am Original; bei den stilsicheren Autoren kann das funktionieren, und Hultberg gehört zu den stilsicheren. Als 1994 "Die Stadt und die Welt" erstmals erschien, fiel schon der Zusatz auf: "vom Autor durchgesehene und autorisierte Übersetzung". So etwas ist heute nicht mehr üblich, da musste was passiert sein. Es gibt Vermutungen und Gerüchte, die lassen wir hier beiseite. Jedenfalls reiste Hultberg damals nach Salzburg, um mit seinem Lektor die Schmalbruch-Übersetzung zu überarbeiten. Nun hat Angelika Gundlach das Buch ganz neu übersetzt, so wird es jedenfalls verkauft.

    "Er war tot, als die Feuerwehr ankam, ob es Rauchvergiftung, Verbrennungen oder Herzschlag war, kann ja gehüpft wie gesprungen sein, und der Scheck wurde merkwürdigerweise nie eingelöst, aber das half Fräulein Danielsen auch nicht, denn Dr. de Forchelet war immer der Auffassung gewesen, das Wohl der Familie käme an erster Stelle",

    so heißt es in der alten Übersetzung von Ursula Schmalbruch. Nun die neue von Angelika Gundlach:

    "Er war tot, als die Feuerwehr eintraf, ob es Rauchvergiftung, Verbrennungen oder Herzschlag war, ist ja eigentlich gehupft wie gesprungen, und der Scheck wurde merkwürdigerweise nie eingelöst, aber das half Fräulein Danielsen nicht die Bohne, denn Dr. de Forchelet war immer der Auffassung gewesen, dass das Wohl der Familie vorging".

    In der neuen Ausgabe steht also nun "eintraf" statt "ankam", dazu kommen zwei weitere kleine, mehr oder weniger gute Änderungen. Die einzige echte Verbesserung - denn auch im Original steht ein relativ kräftiger, umgangssprachlicher Ausdruck - ist Gundlachs Formulierung "das half Fräulein Danielsen nicht die Bohne", wo sich Schmalbruch mit einem "das half Fräulein Danielsen auch nicht" zufrieden gab. Aber die Sache mit der Bohne gehört schon zu Gundlachs auffälligsten Änderungen, ihre Arbeit liest sich stellenweise wie eine Abschrift. Ihren größten Ehrgeiz legt sie in die buchstabengetreue Kopie topografischer Angaben. Straßennamen werden nicht mehr übersetzt, das ist mittlerweile Konsens. Unsinnig ist aber zum Beispiel die Übernahme von "Domkirke", statt einfach Dom zu sagen. In erster Linie konzentriert sich diese neue Ausgabe auf die penible Einhaltung von Orthografie und Interpunktion des Originals. Aber das ist Pedanterie, nicht Genie.

    Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die neue Version ist nicht schlechter als die alte. Aber ob nun die Stadt Ǻrhus mit zwei A oder mit einem A plus Kringel geschrieben wird, entscheidet nicht über die Qualität einer Übersetzung. Um es klar zu sagen: Die Gundlach-Version, die als Neuübersetzung vom Literaturausschuss des Dänischen Kunstrats gefördert wurde, ist in Wahrheit eine bearbeitete Fassung der von Hultberg durchgesehenen Schmalbruch-Übersetzung von 1994. Es ist eine Lektoratsarbeit. Eine Neuübersetzung ist es nicht.

    Peer Hultberg: Die Stadt und die Welt
    Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach
    Jung und Jung, Salzburg/Wien 2008, 477 Seiten, 32 Euro