Freitag, 19. April 2024

Archiv


Verstrickt

Bis zum 2. Lebensjahr sei ihr Sohn ein völlig unauffälliger Säugling gewesen, erinnert sich Maria Schmidt. "Er hat auch ganz normal mit der Sprachentwicklung begonnen. Doch dann veränderte er sich plötzlich, zog sich zurück, bekam einen Tobsuchtsanfall, wenn ich die Straßenseite wechseln wollte, und hat auf Ansprache kaum mehr reagiert." Es dauerte nicht lange, bis die Ärzte Maria Schmidt verkündeten, ihr Sohn litte an Autismus. Es traf sie wie ein Schock.

Von Volkart Wildermuth | 06.02.2005
    Probleme, auf andere Menschen zuzugehen, Sprachschwierigkeiten und ein Zwang zu Ritualen und Wiederholungen: das sind die drei wesentlichen Kennzeichen einer autistischen Störung. Unter tausend Kindern sind zwei bis drei davon betroffen. Schon lange versuchen Wissenschaftler die Ursache hinter den vielfältigen Problemen zu identifizieren. Doch auf welcher Ebene die Forscher auch nachsehen, ob bei den Genen, den Verschaltungen der Nerven oder der Aktivität ganzer Hirnregionen, immer finden sie Unterschiede zwischen ihren autistischen Patienten. Es gibt eine Vielzahl von sich zum Teil widersprechenden Detailbefunden, aber keine Theorie, die sie überzeugend zusammenführen kann. Das galt zumindest bis vor ein, zwei Jahren. Doch langsam beginnen die Forscher, sich aufeinander zuzubewegen.

    Die Berliner U-Bahn. Der Zug rattert, Menschen sprechen, aus einem Walkman dringen Rhythmen. Im Wagen überall bunte Werbung, Bilder zucken über einen Fernseher an der Decke, immer leuchtet das helle Licht der Stationen. Für einen dreizehnjährigen Jungen, nennen wir ihn Ralf, denn er will, wie die anderen Betroffenen, anonym bleiben - für Ralf wird die Flut der Reize zur Bedrohung, vor der er sich schützen muss, wie seine Mutter Maria Schmidt berichtet.

    Damit er die U-Bahnfahrt aushält, hat er jetzt einen Zwang entwickelt, dass er halt die Stationen immer wieder liest, ich muss die wiederholen, er wiederholt die dann noch mal, an jeder Station, das ist zum Teil aus dem Bedürfnis, dass er die lesen möchte entstanden, aber andererseits ist das für ihn auch eine Beschäftigung, um also diese U-Bahnfahrt mit relativ wenig Ablenkung gut zu ertragen.

    Probleme mit anderen Menschen, Sprachschwierigkeiten und ein Zwang zu Ritualen und Wiederholungen, das sind die drei Kennzeichen einer autistischen Störung. Von tausend Kindern sind zwei bis drei betroffen. Bei der extremen Form des frühkindlichen Autismus verweigern sich die Kinder jedem Kontakt, schreien los, sobald sie berührt werden und verbringen den ganzen Tag damit, vielleicht eine Lampe an und aus zu schalten. Oft sind sie geistig behindert. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Menschen mit Asperger Syndrom. Sie lernen normal sprechen, haben häufig eine überdurchschnittliche Intelligenz, sind aber dennoch in Ritualen gefangen, verstehen die Gefühle anderer nur schwer, ziehen sich deshalb zurück.

    Ich denke mal, in meinem Sohn steckt oft noch eine ganz andere Person, die halt eben durch diese autistische Behinderung natürlich oft so nicht agieren kann und so rauskommt wie man es eigentlich sich wünscht oder wie er es sich vielleicht wünschen würde.

    Schon lange versuchen Wissenschaftler die Ursache hinter den vielfältigen Problemen autistischer Menschen zu identifizieren. Doch das ist alles andere als einfach. Auf welcher Ebene die Forscher auch suchen, ob bei den Genen, den Verschaltungen der Nerven oder der Aktivität ganzer Hirnregionen, immer fanden sie Abweichungen zwischen den Autisten. Es gibt eine Vielzahl von sich zum Teil widersprechenden Detailbefunden aber keine Theorie, die sie überzeugend zusammenführen kann. Das galt zumindest bis vor ein, zwei Jahren. Inzwischen beginnen sich die Forscher aufeinander zuzubewegen, meint Dr. Mattew Belmote von der Universität Cambridge in England.

    Es gab Theorien die besagten, im autistischen Gehirn gibt es zu viele Verbindungen, andere meinten dagegen, es existieren zuwenig Verbindungen. Für beide Ansichten finden sich Belege. Wie soll man das zusammenführen? Nun, die Leute können verschiedene Dinge meinen, wenn sie von Verbindungen sprechen. Es gibt weitreichende Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Regionen des Gehirns und es gibt Kontakte auf der winzigen Ebene einzelner Nervenzellen. Wir glauben, dass es zu viele dieser lokalen Kontakte gibt und zu wenige der weitreichenden Verbindungen.

    Nach Ansicht von Mattew Belmonte gerät das autistische Gehirn bei seiner Entwicklung aus der Balance. Es konzentriert seine Energie auf die Verarbeitung der Details und verliert dabei das Ganze aus dem Blickfeld. Dieses Ungleichgewicht in der Informationsverarbeitung führt dann zu den Symptomen der autistischen Störung, vor allem zu den Schwierigkeiten im sozialen Bereich.

    Wenn ich mit Ihnen spreche, dann können Sie meine Worte hören, den Tonfall meiner Stimme, Sie können meinen Gesichtsausdruck beobachten und meine Gesten. All diese Dinge kann ein normales Gehirn problemlos zusammenfügen. Aber für ein Gehirn, das Probleme mit den weitreichenden Verbindungen hat, ist es fast unmöglich, die verschiedenen Eindrücke auf der Stelle zu verknüpfen. Deshalb hat ein Mensch mit einer autistischen Störung Schwierigkeiten am Hin und Her eines Dialogs teilzunehmen. Aus diesem Grund folgt er Drehbüchern und Ritualen, Dingen, die er im voraus planen kann.

    Ralf sieht aus wie ein ganz normaler 13-jähriger Junge. Schlaksig steht er da, im Standardoutfit, Jeans und Pullover, unauffällig. Aber diese Unauffälligkeit kostet ihn viel Kraft. Andere Menschen, laute Geräusche, all das dringt ungefiltert in seinen Kopf, verwirrt und verängstigt ihn. Seine Mutter Maria Schmidt, versucht deshalb, ihm eine verlässliche Umgebung zu schaffen. Der Weg zur Schule ist immer gleich, genauso wie die Gerichte auf dem Mittagstisch. Heute ist Maria Schmidt Expertin in Sachen Autismus. Als Ralf sich aber im Alter von etwa 2 Jahren zu verändern begann, war sie völlig unvorbereitet.
    Vorher war er also ein ziemlich unauffälliger, gut entwickelter Säugling auch körperlich gut entwickelter Säugling, hat auch ganz normal mit der Sprachentwicklung begonnen und dann war er mit einmal zurückgezogen, hat oft auf Ansprache nicht mehr reagiert, ist oft auch sehr zornig, sehr unruhig geworden. Man kennt das ja aus diesem normalen Trotz und Bockalter, das muss man sich ungefähr noch 10 mal stärker vorstellen. Also ein heftiger Widerstand beim Wechseln der Kleidung bei den alltäglichsten Dingen. Massive Erregungszustände beim Wechseln der Straßenseite, gerade das sind die Dinge, die einem wirklich den Schweiß in den Nacken treiben.

    Zu den Problemen mit Ralf kamen die Probleme mit der Umgebung, mit den Verwandten aber auch mit den Leuten auf der Straße.

    Wenn mein Sohn beispielsweise als kleiner Knirps im Kinderwagen oder im Buggy dann irgendwie ausflippt ist und schrill schrie, weil er halt beispielsweise im Supermarkt völlig überfordert war durch die bunten Farben, durch irgendwelche anderen Dinge, ja und da konnte man alles erleben, von Verständnis bis hin zu absolutem Unverständnis und ich muss sagen, eigentlich die relativ bösen und gewalttätigen Ratschläge, dem Kind mal ordentlich eine drauf zu geben, die haben überwogen. Ich muss sagen, da war ich immer ziemlich entsetzt. Und das war für mich und ich denke für viele andere Eltern war das ein echter Spießrutenlauf.

    In den Siebzigern und Achtzigern wurden vor allem die Eltern für den Autismus der Kinder verantwortlich gemacht. Doch heute ist diese Schuldzuweisung wissenschaftlich nicht mehr haltbar, erläutert Prof. Helmut Remschmidt von der Universität Marburg.

    Wir sind weit davon entfernt von früheren Thesen, in denen man gesagt hat, die Eltern, vor allem die Mütter erzeugen autistische Symptome, sind emotional kalt, ja emotional frigide, wie das in manchen Arbeiten hieß, das sind völlig überholte Dinge sondern das ist eine biologische Störung mit einem starken genetischen Hintergrund und die Erblichkeit spielt eine Rolle und das muss man auch entlastend den Eltern sagen.

    Der Autismus ist die psychiatrische Krankheit mit der höchsten Erblichkeit überhaupt. Ist ein eineiiger Zwilling betroffen, dann leidet fast immer auch sein Bruder an der Krankheit. Das heißt aber nicht, dass irgendwo im Genom ein Autismusgen lauert. Es müssen viele unterschiedliche genetische Risikofaktoren zusammenkommen, bevor die Krankheit entsteht. Einen davon konnte Christopher Gillberg, Professor an der Universität Göteborg identifizieren.

    In einigen Familien haben wir eine Mutation im Neuroligin-Gen entdeckt, die bei ihren Kindern entweder zum klassischen Autismus oder zum Asperger Syndrom führten. Das Neuroligin Eiweiß ist extrem wichtig für die Bildung der Synapsen, der Kontaktstellen zwischen den Nerven. In der frühen Entwicklung ist es entscheidend, dass die Nerven die richtigen Verbindungen knüpfen. Wenn das Neuroligin verändert ist, bekommen die Nervenzellen nicht die optimalen Verbindungen. Sie knüpfen Verbindungen, aber es sind wahrscheinlich nicht die besten.

    Dieser genetische Befund passt zum Motiv der schlecht austarierten Verbindungen im autistischen Gehirn. Die Neuroligine sind aber nicht die einzigen Risikofaktoren in der DNA. Das Genom ist übersät mir Regionen, die eine Beziehung zum Autismus haben. So können offenbar Veränderungen in Genen des Immunsystems auch die Kontakte zwischen Nerven beeinflussen. Kürzlich wurde entdeckt, dass ein Gen namens "engrailed 2" eine Rolle bei der Entstehung des Autismus spielt. Dieses Gen organisiert die Struktur des Kleinhirns, das an vielen Denkvorgängen beteiligt ist. Autistische Züge treten auch gehäuft bei einigen Erbleiden auf. Beispiele sind die "Tuboröse Sklerose", bei der das Frontalhirn verändert ist, und das "Fragile X". Bei dieser erblichen Form der geistigen Behinderung werden überflüssige Nervenverbindungen nicht abgebaut. Die sinnlosen Kontakte bleiben bestehen - das könnte mit ein Grund dafür sein, dass das Gehirn autistischer Kinder im Durchschnitt etwas größer ist, als das ihrer Altersgenossen. All diese Erbfaktoren haben eins gemeinsam: Irgendwie stören sie die üblichen Verknüpfungen zwischen den Nerven. Die Gehirnentwicklung kann aber während der Schwangerschaft auch durch äußere Faktoren gestört werden. Etwa durch bestimmte Virusinfektionen oder durch Medikamente, wie Contergan. In der Folge, das zeigt sich unter dem Mikroskop, sind benachbarte Nervenzellen der Großhirnrinde zu eng miteinander verknüpft. Dafür wirken die weit reichenden Verbindungen wie ausgedünnt.

    Michael ist ein sympathischer Sechzehnjähriger mit Dreitagebart und Dauerlächeln. Wenn er nach Hause kommt, sagt er allerdings nur kurz Hallo und zieht sich dann in sein Zimmer zurück. Darin stapeln sich elektrische Geräte aller Art. Michael nimmt sie auseinander und schafft es meist auch, sie wieder zusammenzusetzen. Technik ist sein Hobby, Schaltkreise seine Lektüre. Die Feinheiten des menschlichen Miteinanders sind ihm dagegen oft unverständlich, berichtet seine Mutter Petra Meier.

    Da waren wir eingeladen bei Freunden und er sagte, na hier könnte man auch mal wieder abstauben, weil es nicht so ganz sauber war, und ich dachte Uhps... Das ist natürlich in dem Rahmen, privat, und es wurde mit viel Humor aufgenommen. Aber wenn man das jetzt einmal umdenkt und er ist meinetwegen bei einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle und sagt, na in diesem Büro sieht es aber unordentlich aus, dann ist er schneller draußen als drin. Also dieses Gefühl zu bekommen, wann sage ich was. Und wo schade ich mir und wo ist es mir zum Vorteil, das fehlt diesen Kindern oft und das bringt dann die Problematik mit sich dass sie sich unverstanden fühlen, dass sie sich Freundschaften verprellen und und und.

    Michael leidet am Asperger Syndrom. Mit dem Sprechen hat er keine Schwierigkeiten, er wirkt nur etwas langsam, ein wenig ungeschickt. In seiner Klasse auf der Integrationsschule ist das kein Problem. Michael wird akzeptiert, wie er ist. Außerhalb dieser relativ geschützten Umgebung eckt er dagegen immer wieder an. Deshalb hat sich Petra Meier früher große Sorgen um ihren Sohn gemacht. Heute versucht sie gelassen zu bleiben.

    Im Großen und Ganzen kann man jetzt aber nicht unbedingt sagen, dass er so ein völlig unglückliches Kind war, ja, also er hat, er lebt auch ein Stück in seiner Welt und das ist ja auch so eine Problematik, der Leidensdruck der Eltern, die ihr Kind sehen, was sich so isoliert und der doch nicht so große Leidensdruck der Kinder, die das für sich als normal empfinden.

    Verstärkte kurzreichweitige Verknüpfungen, ausgedünnte weitreichende Verbindungen - dieses Ungleichgewicht beeinflusst die Verarbeitung der Sinneseindrücke schon ganz am Anfang und verändert so die Wahrnehmung eines autistischen Kindes, zum Beispiel beim Hören. Normalerweise registriert das Gehirn in wenigen Millisekunden die Tonhöhe eines Lautes. Prof. Nicolas Gage von der Universität in Irvine, USA, kann das mit Hilfe des Magnet Enzephalogramms verfolgen. Eine bestimmte Komponente des MEG Signals erscheint immer, wenn sich die Tonhöhe verändert.

    Wichtiger noch, diese Komponente reagiert unterschiedlich auf Silben wie "ba" oder "da". So können wir verfolgen, wie Kinder Sprachlaute verarbeiten. Normalerweise ist diese Komponente bei Kindern ganz ähnlich wie bei Erwachsenen. Bei autistischen Kindern, die massive Sprachprobleme haben und sich vor Lärm fürchten, sehen wir dagegen überhaupt keine vergleichbare Reaktion. Schon eine Zehntelsekunde nach einer Silbe haben diese Kinder eine verminderte Genauigkeit in der Verarbeitung des Tonsignals. Und das sind einfache Laute. Man kann sich vorstellen, dass wenn sie gesprochene Sprache mit dieser schlechten Auflösung hören, dass sie dann ganz schnell eine Kakophonie erleben.

    Das Gehirn verarbeitet unterschiedliche Tonhöhen getrennt in benachbarten Nervengruppen. Bei autistischen Kindern wirkt diese räumliche Abbildung der Tonhöhe im Gehirn verschmiert. Ein tiefer Ton aktiviert auch Nerven, die eigentlich auf höhere Töne reagieren sollten. Das Signal schwappt sozusagen über - was sich durch eine zu starke Koppelung benachbarter Nervenzellen erklären lässt. In den visuellen Zentren des Gehirns führen die besonders engmaschigen Verbindungen dazu, dass manche Autisten geradezu überscharf sehen. Wenn sie eine Szene malen sollen, zeichnen sie winzige Details, die sich aber kaum zu einem Gesamtbild fügen.

    Im Englischen Cambridge zeigt Mattew Belmonte Kindern Punkte auf einem Bildschirm, während sie in einem Hirnscanner liegen. Dabei sollen sie sich auf eine Seite des Bildes konzentrieren. Normalerweise ist dann die gegenüberliegende Seite des Gehirns aktiv.

    Das ist beim Autismus anders. Die optischen Zentren beider Hirnhälften sind ausgesprochen aktiv, sogar aktiver als normalerweise. Aber diese Aktivität ist gleichbleibend, sie verändert sich nicht, wenn die Kinder sich auf die linke oder die rechte Seite konzentrieren. Es wirkt so, als ob sie entweder die optischen Eindrücke völlig ausblenden müssen oder aber sie drehen die Helligkeit ganz auf und lassen alles auf einmal herein. Bei dieser Aufmerksamkeitsübung ist bei ihnen zusätzlich eine Hirnregion aktiv, die störende Signale unterdrückt. Es sieht so aus, als ob Menschen mit Autismus die Wahrnehmungen nicht direkt filtern können und deshalb zunächst alles hereinlassen. Dafür müssen sie die irrelevanten Signale in späteren Verarbeitungsschritten mühsam und ungenau wegdrücken.

    So kommt es zu einer Überflutung mit Reizen, die es autistischen Kindern schwer macht, laute Geräusche oder grelle Farben zu ertragen. Menschen sind für die Wahrnehmung besonders schwierige Objekte. Sie sprechen, gleichzeitig verändern sie ihren Gesichtsausdruck und bewegen sich noch. Außerdem agieren sie oft widersprüchlich. Ein Kompliment kann sich ins Gegenteil verkehren, wenn es im falschen Tonfall oder mit herab gezogenen Mundwinkeln gemacht wird. Andere Menschen zu verstehen, das ist eine Kunst, es ist aber auch eine Notwendigkeit, um sich im sozialen Raum zurechtzufinden. Deshalb ist es kein Wunder, dass das menschliche Gehirn für diese Herausforderung normalerweise besonders gut gerüstet ist, erklärt Prof. Geraldine Dawson von der Universität Washington.

    Es gibt eine spezielle Hirnregion, die Gesichter erkennt. Wir werden mit dieser Fähigkeit geboren, Gesichter als etwas Besonderes zu betrachten, etwas, das sich von anderen Dinge unterscheidet. Im Gehirn ist dafür die "Fusiforme Windung" zuständig, die an der Seite des Kopfes liegt. Andere Objekte, Autos oder Bäume, werden in einer ganz andere Region verarbeitet. Menschen, die an Autismus leiden, verwenden diese Objektregion, wenn sie auf Gesichter schauen.

    Für sie scheint sich ein Gesicht nicht grundsätzlich von einem Auto zu unterscheiden. Allerdings gibt es hier eine wichtige Ausnahme. Wenn autistische Menschen auf das Bild der eigenen Mutter schauen, aktivieren auch sie die "Fusiforme Windung". Diese Struktur fehlt also nicht, es scheint eher so, als würde sie nur mit gebremster Kraft arbeiten. Das spricht dafür, dass die Schwierigkeit bei der Gesichtserkennung mit dem Mangel an weit reichenden Nervenverbindung zusammenhängt. Der Kontakt mit der Mutter ist so eng, dass selbst über schwache Kontakte genügend Impulse die "Fusiforme Windung" erreichen, um dieses vertraute Gesicht als etwas Besonderes zu erkennen. Fremde Personen nehmen autistische Menschen dagegen eher als eine Ansammlung von Einzelheiten wahr, achten mehr auf einen glitzernden Ohrring, als auf die ausdruckstarken Augen. Deshalb können sie sich im sozialen Raum kaum orientieren. Helmut Remschmidt:

    Stellen sie sich vor, ein Mensch kann Gesichtsausdrücke schwer erkennen, dann hat er natürlich auch Schwierigkeiten soziale Phänomene zu begreifen, weil ja über den Gesichtsausdruck, über Lächeln oder Abweisen oder auch über den Blickkontakt viel kommuniziert wird, was mit der sozialen Situation zu tun hat. Und wer das nicht unterscheiden kann, der weiß ja auch nicht, ob jemand freundlich ihm gegenüber ist oder abweisend oder vielleicht sogar ärgerlich, und das sind Dinge, die führen zu großen Unsicherheiten und diese Unsicherheiten versuchen diese Menschen dann eben zu vereinfachen, indem sie mit einheitlichen Verhaltensmustern reagieren.
    Petra Meier wusste schon lange, dass ihr Sohn anders war. Jahrelang wollte er nur von einem bestimmten Teller essen, er neigte zu Wutanfällen und hielt freundschaftliche Gesten anderer Kinder, eine Umarmung, einen Klaps auf die Schulter, für einen Angriff. Aber erst am Ende der dritten Klasse gab es so viele Schwierigkeiten, dass Petra Meier mit Michael zu einem Psychologen ging. Der erkannte schnell, dass er es wahrscheinlich mit dem Asperger Syndrom zu tun hatte.

    Eine riesen Erleichterung. Zum Erstaunen mancher natürlich war es zuerst einmal Schluck, es ist also doch etwas da, was so in der Schwebe stand, auf der anderen Seite auch eine Erleichterung, weil dann plötzlich ganz konkret diese diffuse Sache einen Namen bekommen hat. Ich habe mich dann auch informiert und es hat eine Riesenentspannung gegeben auch bei uns im Alltag, weil ich individuell drauf eingehen konnte und indirekt auch meinen Sohn besser unterstützen, motivieren, fördern und fordern konnte.

    Bei Ralf waren die Probleme größer, schon im Alter von drei Jahren erkannten Ärzte seinen frühkindlichen Autismus. Für Maria Schmidt war die Diagnose nicht nur ein Schock sondern vor allem die Chance, die passende Hilfe für Ralf zu finden.

    Ich denke mal, mit einer Frühförderung, die auf das Kind zugeschnitten ist, und die jetzt auch man muss ja heute auch immer auf diese finanziellen Kürzungen und Möglichkeiten hinweisen, und die noch mit relativ optimalen Bedingungen stattfinden kann, denke ich ist die absolut notwendig und auch lebensnotwendig für Eltern und Kind. Aushalten von Alltagssituationen, wir gehen kleine Einkäufe machen, wie Mahlzeiten zubereitet werden, all diese ganz alltäglichen Dinge. Auch das sich Einfügen in die Gruppe das Einfügen in den Alltag, in bestimmte Dinge, das ist einfach eine ganz wichtige Sache.

    Eine ruhige und einfach zu durchschauende Umgebung ist das A und O für Kinder mit einer autistischen Störung. Laute Geräusche oder Ablenkungen sollten fehlen, alle Personen müssen auf die autistischen Probleme eingestellt sein. Haben diese Kinder so die Chance, innere Ruhe zu erlangen, können sie viel lernen. Dabei helfen inzwischen auch Therapien, die auf den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen. In Washington konzentriert sich Geraldine Dawson auf die Verarbeitung der Gesichter.

    Jetzt da wir wissen, das die Fusiforme Windung nicht zerstört ist, können wir Therapien entwickeln, die diese Hirnregion trainieren. Wir haben ein Computerprogramm, das Menschen mit Autismus zeigt, wie man ein Gesicht erkennt, sie zu Gesichtsexperten ausbildet. Wir hoffen, dass diese Therapie, wenn sie früh angewandt wird, zu einer normaleren Gehirnentwicklung führt.

    Computerprogramme sprechen autistische Kinder besonders an, weil sie verlässlich reagieren. Mit ihrer Hilfe können die Kinder das Erkennen von Gesichtsausdrücken üben. Auch für das Training des Gehörs gibt es spezielle Software. Der Computer spielt dabei zunächst überdeutlich betonte Sprachlaute vor. Sobald das Kind sie verlässlich erkennt, präsentiert das Programm eine etwas natürlichere Aussprache. Forscher aus den USA haben berichtet, dass sich auf diesem Weg nicht nur die Sprachentwicklung autistischer Kinder beschleunigen lässt, sie sollen auch generell besser in sozialen Situationen zurechtkommen.

    Gerade auf dem Feld der Autismustherapie wurde in der Vergangenheit den Eltern immer wieder zuviel versprochen. Diese Gefahr besteht auch bei den neuen neurowissenschaftlichen Therapien meint Christoph Gillberg.

    Als wir die Probleme beim Hören entdeckten, fingen die Leute an, das Gehör zu trainieren. Aber einige Studien deuten darauf hin, dass sich dadurch die grundlegenden Probleme der autistischen Kindern nicht bessern. Sie können Geräusche leichter ertragen, aber die anderen Symptome gehen nicht zurück, der Autismus wird nicht geheilt. Ich nehme an, mit dem Gesichtertraining wird es ähnlich sein. Alle alten Studien zeigen, der Aspekt, der gefördert wird, kann deutlich profitieren, aber das überträgt sich nicht auf die Gesamtheit der autistischen Probleme.
    Das intensive Training in Kindergarten und Spezialschule hat Ralf geholfen, mit seiner autistischen Störung besser umzugehen. Er beobachtet sich selbst und zieht sich aus einer geselligen Runde zurück, bevor ihm alles zuviel wird und er einen Wutanfall bekommt. In der U-Bahn murmelt er ständig die Namen der Stationen vor sich hin. So kann er sich von den lauten Geräuschen, den vielen Menschen abkapseln. Trotz solcher Strategien ist jeder Gang vor die Haustür für Ralf eine Herausforderung. Sein Leben ist nicht einfach, deshalb freut sich Maria Schmidt besonders über die Stärken von Ralf. Zum einen ist er im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr an Freundschaften interessiert.

    Ansonsten ist er zum Beispiel, was Arbeiten am Computer, an den ganzen modernen Spielgeräten wie Playstation, Gameboy etc. betrifft, sehr geschickt, kommt da auch sehr weit, lässt sich da auch wenig helfen, ist da also wirklich ganz in seiner Welt und wie gesagt ist da auch sehr geschickt ist da vielleicht auch geschickter als so manch andere Jugendliche in dem Alter.

    Vielleicht findet er einmal in der Computerbranche Arbeit. Aber auch Maria Schmidt weiß, dass Ralf wohl immer auf Unterstützung angewiesen sein wird.

    Ich würde für ihn hoffen, dass er später unter Gleichaltrigen leben kann und auch irgendwie einen Lebenspartner eine Lebenspartnerin findet und auch Freunde und Anschluss findet, in einer Wohngruppe beispielsweise, in betreutem Wohnen und dass er auch in dem Rahmen es ihm möglich ist zu arbeiten. Mir wäre es wichtig, das da immer jemand ist, der darauf achtet, dass es ihm gut geht.

    Eine schwere autistische Störung ist für das Kind und die Eltern ein großes Problem. Mildere Verläufe, wie das Asperger Syndrom, bei dem Sprache und Intelligenz nicht eingeschränkt sind, fallen dagegen oft lange Zeit gar nicht auf. Einige Betroffene wollen auch gar nicht als "krank" beschrieben werden. Sie sehen sich nur als "anders", als Menschen mit einem ganz eigenen Denkstil.

    Menschen mit Asperger Syndrom interessieren sich eher für technische Objekte als für Personen. Ihr Blick aufs Detail, ihre Fähigkeit sich auf für andere langweilige Dinge zu konzentrieren, ist eine Stärke in vielen Routinejobs. Bei einer online Umfrage fanden sich in Softwarefirmen besonders viele Angestellte mit Asperger Symptomen. Einzelne von ihnen sind auch zu herausragenden Leistungen fähig, können blitzschnell große Zahlen verrechnen, nach einem kurzen Blick eine Szene fast fotorealistisch abzeichnen oder kennen dicke Fahrplanbücher auswendig.

    Es gibt eine große Bandbreite autistischer Störungen, von ganz schweren Verläufen, über mildere Formen bis hin zum Asperger Syndrom. Und von da, glaubt Mattew Bellmonte, ist es nicht mehr weit bis zu Sonderlingen, die vielleicht seltsam wirken, aber als Teil der normalen menschlichen Vielfalt gelten.

    Interessanteweise arbeiten Menschen mit autistischen Verwandten häufiger als Wissenschaftler, Ingenieure oder Mathematiker. An der Entstehung des Autismus sind viele Gene beteiligt. Wenn man nur einige davon hat, kann man sogar überdurchschnittliche Fähigkeiten entwickeln. Ich meine, wir brauchen schließlich Wissenschaftler. Aber wenn man zu viele dieser Gene hat, wenn die Verbindungen zu sehr gestört sind, wenn man sich nur auf winzigste Details konzentrieren kann, dann wird die Entwicklung des Gehirns unwiederbringlich behindert und das Kind zeigt eine autistische Störung.

    Eine Studie aus England hat ergeben, dass vor allem Intelligenz und Sprachvermögen den Lebensweg autistischer Kinder bestimmen, die Zwanghaftigkeit und die sozialen Schwierigkeiten fallen auf Dauer weniger ins Gewicht. Ungefähr 30 Prozent der Asperger Patienten führen als junge Erwachsene ein eigenständiges Leben. Allerdings werden sie häufig noch aus dem Hintergrund von ihren Eltern unterstützt. Dagegen wohnen Menschen, die an einer schwere Form des frühkindlichen Autismus leiden, später fast immer in betreuten Einrichtungen.

    Bei jedem einzelnen Kind kann eine frühe Förderung große Fortschritte bewirken. Aber es gibt auch Grenzen, die sie nicht überwinden können. Diese Beschränkungen anzuerkennen ist für Christopher Gillberg entscheidend für einem menschlichen Umgang mit dem Autismus.

    Wir sollten unser Bestes geben, um ihnen zu helfen. Aber wir dürfen nicht verlangen, dass sie normale soziale Wesen werden. Es ist wie bei der Blindheit, diese Menschen sind sozial blind. Und man kann einen Blinden nicht zwingen zu sehen. Das versuchen manche Leute bei Menschen mit autistischen Störungen. Sie sagen, du musst normal werden. Aber ich glaube, wir müssen sie respektieren. Sie sind oft wundervolle Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten, mit denen sie uns anderen helfen können.

    Wenn ich mir meinen Sohn ankucke so rückwirkend, muss ich sagen hat er eigentlich eine tolle Entwicklung gemacht, wo ich eigentlich ganz glücklich darüber bin. Heute hat er viel Flexibilität, also er kann aus jedem Teller essen, hat einen trockenen Humor in der Richtung, dass mir einmal ein Psychologe gesagt hat, wenn mein Sohn in England wohnen würde, würde er mehr akzeptiert werden, weil da diese Individuen diese so genannten ein bisschen schrägen Vögel, wie man sie auch immer nennt, halt letztendlich auch jeder in seinem Freundeskreis so eine Person hat, ohne Diagnose.