Mittwoch, 17. April 2024

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Verteidigung am Hindukusch in Afghanistan

Nach dem 11. September 2001 hatte sich die Welt verändert. Die Bundesregierung sagte den USA die "uneingeschränkte Unterstützung" zu - und am 22. Dezember wurde daraufhin der Bundeswehreinsatz in Afghanistan beschlossen.

Eine Sendung von Rolf Clement | 22.12.2011
    "Hast Du das gehört", fragte der damalige Bundesfinanzminister Hans Eichel seinen Kollegen, Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, am Telefon. Eichel hatte Scharping angerufen, als er im Fernsehen die Pressekonferenz von Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der Afghanistan-Konferenz Anfang Dezember 2001 in Bonn verfolgte. Schröder hatte die Staatengemeinschaft aufgefordert, nun Afghanistan wieder aufzubauen. An die afghanische Delegation gerichtet, fügte er hinzu:

    "Auch wir glauben an die Zukunft Ihres Landes. Und wo wir beim Aufbau helfen können und bei der Absicherung dessen, was erreicht worden ist, hilfreich sein können, wollen wir das tun."

    Eichel war elektrisiert. Scharping antwortete auf seine Frage: Ja, das habe ich gehört, und das wird teuer.
    Knapp zwei Wochen später, am 22. Dezember 2001, heute vor zehn Jahren, wurde diese teure Mission auf den Weg gebracht: Der Bundestag beschloss, sich an den internationalen Bemühungen um Afghanistan mit der Entsendung eines Bundeswehrkontingents von 1200 Soldaten zu beteiligen. Die Abgeordneten waren – höchst ungewöhnlich – zu einer Sondersitzung des Parlaments an einem Samstag, unmittelbar vor dem vierten Advent, zusammengekommen, direkt vor den Weihnachtsferien des Parlaments. Die Truppe sollte ihre Arbeit in Afghanistan umgehend aufnehmen. Direkt nach dem Fest brach das Vorkommando an den Hindukusch auf. Bundeskanzler Gerhard Schröder begründete die Mission:

    "Es gehört für viele, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu den bitteren Wahrheiten in dieser Zeit, dass der Frieden in Afghanistan nur durch Krieg näher gerückt ist. Es gehört zu den Lehren der jüngeren deutschen Geschichte, die wir alle miteinander hier erlebt haben, dass pseudoreligiös legitimierte Gewalt und motivierte Gewalt durch demokratisch legitimierte Gegengewalt außer Kraft gesetzt werden muss."

    Außenminister Joschka Fischer von den Bündnisgrünen ergänzte:

    "Nach 23 Jahren Invasion, Krieg und Bürgerkrieg und einem Jahrzehnte dauernden humanitären Desaster, das die Welt öffentlich kaum zur Kenntnis genommen hat, das sich jeden Winter wiederholt hat, seit Jahren, besteht jetzt die große Chance, diesen Krieg und Bürgerkrieg dauerhaft zu beenden. Und ich finde, dieses verdient nun wirklich alle Unterstützung."

    Bundeskanzler Schröder hatte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington den USA seine "uneingeschränkte Solidarität" zugesichert. So sah auch der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe, jetzt die Zeit gekommen, diese Solidarität zu beweisen:

    "Wir haben immer wieder seit dem 11. September über uneingeschränkte Solidarität gesprochen und wir haben – das ist kein Vorwurf – bisher relativ wenig konkret getan. Das kann sich ändern, einiges ist auf dem Weg. Und deswegen glaube ich, dass man zu Recht von Deutschland erwarten kann, dass es sich in dieser Weise mit bis zu 1.200 Soldaten in dieser Friedensmission in Afghanistan beteiligt."

    Der 22. Dezember 2001 war auch in Afghanistan der Start in eine neue Zeit: In Kabul nahm die damalige Übergangsregierung - schon unter Führung des noch immer agierenden Präsidenten Hamid Karsai - ihre Arbeit auf. Sie sollte den Aufbau des neuen Afghanistan gestalten, wie es Anfang Dezember 2001 auf der sogenannten Petersberg-Konferenz bei Bonn beschlossen worden war.

    Grundlage für das internationale Engagement in Afghanistan waren und sind Mandate der UNO, die jährlich erneuert werden. Neben der Truppe zur Unterstützung der Sicherheit - ISAF - wurde von Anfang an auch die zivile "United Nations Assistance Mission in Afghanistan" (UNAMA) mandatiert. Sie sollte den zivilen Wiederaufbau Afghanistans organisieren. Was später als "vernetzter Ansatz" in die Beschlüsse internationaler Gipfeltreffen und nationaler Sicherheitsstrategien aufgenommen werden sollte, war hier schon angelegt: Die ISAF-Truppen sollten das – wie es hieß – sichere Umfeld schaffen, in dem die zivilen Aufbauarbeiten beginnen konnten, die unter der Regie der Vereinten Nationen stattfinden sollten.

    Dass die Bundeswehr damals noch nicht in der Lage war, in solchen Missionen eine Führungsrolle zu übernehmen, machte auch der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping deutlich. Noch weiter geht heute einer der Generäle der Bundeswehr, die damals den Einsatz auf nationaler Ebene planten - der spätere und mittlerweile pensionierte NATO-General Egon Ramms.

    "Die Bundeswehr war damals nicht fit für Afghanistan, jedenfalls nicht, als wir angefangen haben."

    Auch Scharping, der damals gerade eine Bundeswehrreform auf den Weg gebracht hatte, stellt heute rückblickend fest:

    "Man war ja noch nicht längst nicht am Ziel. Und insofern war man von der Ausrüstung, von den Strukturen innerhalb der Bundeswehr, von manchem, was so an Gewohnheiten sich in einem so großen Personalkörper auch verfestigt, nicht wirklich sehr gut vorbereitet."

    Die materielle Ausrüstung der Bundeswehr war an vielen Stellen nicht ausreichend. Es fehlte an geeigneten Fahrzeugen. Der politische Wille, besonders schweres Gerät wie Kampfpanzer mitzunehmen, war nicht da – die volle Schärfe des Einsatzes sollte der deutschen Öffentlichkeit über Jahre hinweg nicht verdeutlicht werden. Bei einigen Systemen fehlten und fehlen bis heute ausreichend Geräte, um vor dem Einsatz angemessen ausgebildet zu werden. Und es fehlte an ausreichendem Schutz. Beim Transportpanzer Fuchs werden erst seit zwei Jahren die Systeme mit dem besten Schutz nach Afghanistan gebracht.

    War also der Einsatz damals überhaupt zu verantworten? Diese Frage wird immer mit Hinweisen auf die damaligen Umstände beantwortet. Rudolf Scharping und Egon Ramms heute:

    "NATO-Beschluss, Beschluss der Vereinten Nationen, diese ganze Aufregung unmittelbar nach diesem völlig unvorhersehbaren, in seinen Auswirkungen dramatischen Anschlägen in New York: Es ging nicht um irgendeine präzise Planung, sondern darum, dass man den Ausgangspunkt internationalen Terrors, nämlich den zusammengebrochenen Staat Afghanistan, stabilisieren wollte und damit den Boden für Terrorismus austrocknen."
    "Es geht eigentlich auch um die politischen Rahmenbedingungen nach Petersberg I, sage ich ganz eindeutig, wo die internationale Staatengemeinschaft mit einer sehr hohen positiven Erwartungshaltung, mit einer Erwartung, dass sich die Lage schnell positiv entwickeln würde, was den Staatenaufbau in Afghanistan angeht, in dieses Abenteuer hineingestürzt hat und schlichtweg die Lage mit Blick auf die Sicherheitssituation, aber auch auf viele andere Rahmenbedingungen für Afghanistan nach mehr als 20 Jahren Krieg falsch beurteilt hat."

    Egon Ramms nennt ein Beispiel:

    "Also zumindest hätte in einem solchen Auftrag in Erwägung gezogen werden müssen, dass die Taliban zu einem bestimmten Zeitpunkt versuchen würden, das, was sie vorher besessen haben, nämlich Afghanistan und die Regierungsgewalt, sich zurückzuholen. Eine solche in weiten Teilen ideologisierte Menschengruppe verzichtet nicht ohne Weiteres auf eine solche Machtstellung, die man gehabt hat. Man hätte zumindest ins Kalkül ziehen müssen, dass diese mit Kämpfern zurückkehren werden und versuchen werden, ihren Machtbereich wieder aufzubauen."

    Zu Beginn des Einsatzes war man sich also des vollen Risikos noch nicht bewusst. Am Pfingstsamstag 2003 mussten vier Soldaten der Bundeswehr diese Fehleinschätzung mit dem Leben bezahlen. Bei der Fahrt zum Flughafen in einem normalen Bus wurde eine Gruppe heimkehrender Soldaten von einem Selbstmordattentäter angegriffen. 29 weitere Soldaten wurden zum Teil schwer verletzt. Egon Ramms macht das heute noch immer betroffen:
    "Da stellt sich für mich immer noch die Frage – ich war als Chef des Stabes im Führungsstab der Streitkräfte direkt involviert -, ob wir eine solche Entwicklung hätten voraussehen müssen und ob wir nicht möglicherweise die Soldaten mit geschützten Fahrzeugen zum Flughafen hätten transportieren müssen. Aber das war das erste Ereignis dieser Art, das hat uns überrascht, gar keine Frage, wir haben die Konsequenzen daraus gezogen."

    Bis jetzt haben 52 deutsche Soldaten in Afghanistan ihr Leben verloren, die meisten sind bei Sprengstoffanschlägen gefallen. Wenn es auch materielle Mängel gab, so reklamiert Rudolf Scharping doch für sich, dass in der damaligen Eile ein Schwerpunkt auf die Ausbildung der Soldaten gelegt wurde:

    "Die Soldaten, die dahin geschickt wurden, die wurden außerordentlich gut vorbereitet, und die haben ja auch einen insgesamt sehr gefährlichen – wie wir wissen -, zum Teil ja erschreckend lebensgefährlichen Job erledigen müssen, sondern sie haben das auch in einer sehr vorbildlichen Weise getan, tapfer, mutig und sehr zielbewusst."

    Die Mission begann schleppend. In der ersten Phase musste sich die Bundeswehr mit ihren Partnern zunächst auf die Hauptstadt Kabul konzentrieren. Die zivilen Hilfsorganisationen fanden sich nur sehr zögerlich in Afghanistan ein. Deswegen begann die Mission dort mit dem Aufbau von Schulen und der Organisation von Unterricht, dem Anlegen von Straßen, dem Bau von Häusern und den mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Brunnen. Militärisch wurde mit Patrouillen und Checkpoints an den Straßen die Sicherheit langsam aufgebaut. Wichtig war: Die NATO-Truppen sollten sichtbar sein und so einen Beitrag zur Sicherheit leisten.

    Außerdem wurden die Polizeikräfte beraten und erste Soldaten ausgebildet. Diese Aufgabe sollte sich im späteren Verlauf der Mission als besonders langwierig erweisen. Zum einen fanden sich zu wenige Polizeiausbilder für einen Einsatz in Afghanistan. Dort wanderten in der ersten Zeit ausgebildete Soldaten und Polizisten wieder zu den Warlords oder den Taliban ab, die besser bezahlten. Die Bezahlung von Armee und Polizei haben mittlerweile weitgehend die USA übernommen. Danach gewannen die Institutionen langsam Vertrauen. Mittlerweile ist die Sicherheitsverantwortung in fast der Hälfte der Provinzen an afghanische Kräfte übergeben worden. Über deren Fähigkeit, dieser Aufgabe gerecht zu werden, gibt es unterschiedliche Bewertungen. Der Chef des Stabes beim NATO-Oberbefehlshaber Operationen, General Manfred Lange, sieht das Glas gut gefüllt, wenn er die Fähigkeiten der afghanischen Armee betrachtet:

    "Sie ist in der Lage, auch heute schon in der Lage, in den Bereichen, in denen sie die Sicherheit übernommen hat, mit den Herausforderungen umzugehen, die auf sie zukommen. Die Taliban haben gerade in den Bereichen, wo die Übergabe stattgefunden hat, noch mal versucht, deutlich zu machen, dass das kein Erfolg ist. Das ist ihnen nicht gelungen."
    Dagegen sieht der ehemalige NATO-General Egon Ramms mehr Schaum im Glas:

    "Die afghanischen Sicherheitskräfte sind zahlenmäßig sehr weit aufgebaut. Sie machen mittlerweile auch sehr deutliche qualitative Fortschritte, das ist auch keine Frage. In den Bereichen, wo sie die Sicherheitsverantwortung übernommen haben, arbeiten sie auch gut. Das Problem ist nur, dass bei diesen Truppenteilen der afghanischen Streitkräfte überall noch westliche oder ISAF-Begleiter dahinterstehen. Und diese werden auch noch einige Jahre dahinter stehen bleiben müssen, weil sich einfach gezeigt hat, dass die afghanischen Sicherheitskräfte – Polizei und Armee – deutlich besser im Einsatz sind, wenn sie durch diese Unterstützer, durch diese Mentoren und dergleichen mehr weiter begleitet werden."
    Blicken wir nochmals zurück: Schon in den ersten beiden Jahren wurde klar, dass die Konzentration von ISAF auf die Hauptstadt Kabul nicht ausreichen würde. Der afghanische Präsident Karsai wurde schon lästerhaft als "Oberbürgermeister von Kabul" bezeichnet – Einfluss auf den Rest des Landes gewann er kaum. So beschloss die UNO im Herbst 2003 die Ausweitung der Mission auf das ganze Land. In vier Etappen hat sich die NATO als Auftragnehmer der UNO bis 2006 auf das ganze Land ausgedehnt. Zuerst rückte sie im Norden des Landes ein, zunächst in Kunduz, später in der ganzen Nordregion. Dieses erste Regionalkommando übernahm Deutschland. Damit war der Norden deutsches Aufbaugebiet. Rudolf Scharping:

    "Die Übernahme des Kommandos im Norden ist zu dieser Zeit gut überlegt in dem Sinne, dass es relativ sicher war, relativ risikoarm. Was nicht bedacht werden konnte, war die Tatsache, dass über die Veränderung der Nachschubwege plötzlich der Norden ins Zentrum auch der Gegenattacken und der terroristischen Interessen der Taliban wie der anderen gerückt wurde."

    Im Norden, dem deutschen Einsatzgebiet, blieb die Lage lange Zeit relativ ruhig. Doch vereinzelte Anschläge führten auch hier zu schmerzlichen Opfern. Trotzdem blieben hier die umfassenden Kampfhandlungen, die den Süden prägten, aus. Erst in den letzten Jahren wurden in Kunduz immer mehr Anschläge verübt.

    Im September 2009 kam es nahe der Stadt zu einem folgeschweren Zwischenfall. Schon mehrfach hatten die Aufständischen im Süden Afghanistans Tanklastzüge gekapert und als fahrende Bomben in Liegenschaften der ISAF gesteuert. Als in der Nähe des deutschen Feldlagers in Kunduz zwei Tankzüge durch die Ermordung der Fahrer in die Hände von Aufständischen fielen und der Chef des Aufbauteams in Kunduz keine geeigneten Mittel hatte, um einen befürchteten Angriff auf sein Lager zu verhindern, forderte er in der Nacht Luftunterstützung durch die USA an. Diese bombardierten die beiden Lastzüge. Ein Bericht der NATO sprach danach von 17 bis 147 Toten, darunter viele Unbeteiligte. Genau aufzuklären war dies nicht. Der Angriff ist hoch umstritten. Manch einer meint, die Tanklastzüge wären ungefährlich gewesen, weil sie in einem Flussbett feststeckten. Hier steht Meinung gegen Meinung.

    Danach begann in Deutschland eine Diskussion über die Frage, ob dieser Einsatz als "Krieg" zu bezeichnen sei. Der später wegen des Plagiats in seiner Doktorarbeit zurückgetretene Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sprach nach diesem Vorfall zum ersten Mal von kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan. Andere sprachen von Krieg. Politiker in Verantwortung wählten diesen Begriff nicht. Zum einen wird er der Lage in Afghanistan nicht gerecht. Dort gibt es von friedlichen Regionen bis zu umkämpften "Hotspots" immer noch alles. Zum anderen hätte der Begriff "Krieg" juristische Folgen. So spricht die Bundesregierung seitdem von einem "innerstaatlichen bewaffneten Konflikt".

    Viele Afghanen selbst sehen das anders. Für sie waren die letzten zehn Jahre die Jahre, in denen sie – gemessen an den Jahren zuvor - am friedlichsten leben konnten. Die Bilanzen, die in diesen Wochen gezogen werden, sprechen von zahlreichen positiven Ergebnissen.

    Für die Bundeswehr und die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland war der Afghanistan-Einsatz Kristallisationspunkt in vielen Bereichen. Mit zurzeit rund 5.000 Soldaten ist es der umfangreichste Einsatz der Bundeswehr in ihrer Geschichte. Doch es entspann sich eine Diskussion, ob der Einsatz in Afghanistan durch die Verfassung gedeckt ist.

    Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.

    heißt es im Grundgesetz. Verteidigung in Afghanistan? Auf einer Pressekonferenz im Dezember 2002 sagte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck auf eine entsprechende Frage den viel zitierten Satz, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt.

    Das ist gelegentlich noch umstritten, aber in der Regel wird die Beteiligung der Bundeswehr an solchen internationalen Einsätzen kaum noch infrage gestellt. Lediglich die Partei Die Linke wendet sich vehement dagegen. Das wird deutlich an der sehr großen Zustimmung im Bundestag zu den jeweiligen Beschlüssen zur Einsatzverlängerung.

    Die Entwicklung in Afghanistan ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass die Regierung in Kabul im Einvernehmen mit der Staatengemeinschaft in bisher zwei Tranchen die Sicherheitsverantwortung für bestimmte Regionen an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben hat. Wenn dieser Übergang abgeschlossen ist, hat die afghanische Regierung die Sicherheitsverantwortung für rund die Hälfte des Landes und der Bevölkerung.
    Im Jahr 2010 hat ISAF einige Strategieänderungen vorgenommen. Der Schwerpunkt wurde stärker auf Ausbildung und Unterstützung gelegt. Es wurde das sogenannte Partnering entwickelt: Afghanische und NATO-Streitkräfte führen Operationen gemeinsam durch. Die Verantwortung und Führung geht zunehmend auf die afghanischen Sicherheitskräfte über. Mittlerweile werden immer mehr Operationen von den afghanischen Streitkräften alleine durchgeführt.

    Der gegenwärtige Kommandeur des Regionalkommandos Nord, also des deutschen Verantwortungsbereichs, Generalmajor Marcus Kneip, ist mit Blick auf die Zukunft vorsichtig optimistisch. Er führt das deutsche Kontingent schon zum zweiten Mal. Er meint zum Ausbildungsstand der afghanischen Sicherheitskräfte und zur Lage in Nordafghanistan heute,

    "Dass die Armee fast quantitativ aufgebaut ist, dass sie qualitativ noch ein Stück weit verbessert werden muss, nämlich aktiver sein muss. In der Entwicklung, die ich sehe, in den Städten: Gesundheitswesen, Verkehrsbedingungen gibt es einen deutlichen Sprung, wobei man sagen muss, 2005 und 2006, was ich selbst gesehen habe, katastrophal zu einem jetzt Knapp-Ausreichend-Zustand. Also qualitativ, noch nicht angekommen, aber eine deutliche Verbesserung, weil wir hier fast bei null begonnen haben."

    Andere sehen die Lage kritischer. Sie befürchten, dass die Aufbauarbeit Stückwerk bleibt und das Land wieder in den Bürgerkrieg zurückfällt, wenn die NATO abzieht. Für das Jahr 2014 hat die NATO gemeinsam mit der afghanischen Regierung den Abzug der Kampftruppen vereinbart, wenn sich die Lage nicht verschlechtert, nur Ausbilder und zivile Experten sollen bleiben. General Kneip meint, dass das gelingen kann.

    "Ich bin kein Prophet, aber ich glaube, dass durch den im vergangenen Jahr begonnenen exponentiell größeren Einsatz an Mitteln, zivilen Mitarbeitern und Soldaten gab es also doch ne Trendwende. Die war nicht gleich verteilt zu 2006, aber das war ein Sprung. Wir sind jetzt so weit, dass – das muss auch so sein -, die Afghanen selbst die Verantwortung übernehmen. Ich glaube, es wäre falsch, keine Zeitlinie zu setzen. Es ist gut, eine Wegmarke zu haben. Ob sie nun passgenau ist, das weiß ich nicht, aber in etwa bei dieser Jahreszahl würde ich mich auch sehen."

    Rudolf Scharping meint, dass es falsch war, eine Jahreszahl zu nennen:

    "Warum sollten wir den Kontrahenten, den Gegnern, ein Signal dafür geben, wie lange sie einfach nur warten müssen.
    Das wird vermutlich nie eine Demokratie nach unserem Muster, aber es wäre viel gewonnen, wenn es ein sicheres Land mit rechtsstaatlichen Verhältnissen würde."