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Vertrauen und Verrat

Wir alle glauben, das Gesicht zu kennen, das heute die Menschen haben, die uns nahe stehen, die uns wichtig sind, die wir lieben (...) Nicht wahrhaben wollen wir, welches Gesicht sie morgen haben werden; ich beziehe mich hier nicht auf den körperlichen, vielmehr auf den moralischen Aspekt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 05.01.2005
    Um Vertrauen und Verrat, Reden und Schweigen, Geheimhaltung und Weitergabe von Information geht es in "Dein Gesicht morgen", dem neuen Roman des spanischen Erfolgsschriftstellers Javier Marías. Langatmig und weitschweifig wird hier über Wahrnehmung und Sprache sinniert. Dabei ist das Handlungsgerüst des in zwei Hauptteile gegliederten Romans denkbar einfach und der erste Teil besteht eigentlich nur aus einem Wochenende in Oxford. Der Ich-Erzähler, ein in der alterwürdigen Universitätsstadt unterrichtender Spanier, der sich mal Juan, mal Jacobo, Jack oder Jacques Dessa nennt, wird von dem angesehenen und emeritierten Hispanisten Sir Peter Wheeler zu einer recht steifen Samstagabendparty eingeladen. Dort ist der Spanier, der sich von seiner Frau getrennt hat, der einzige Partygast, der sich bis in die Morgenstunden mit dem Professor unterhält und bei ihm zuhause übernachtet. Vor dem Einschlafen blättert er noch unruhig und nervös in ein paar Büchern aus der Bibliothek des Professors, gleichsam als Fortsetzung des aufwühlenden Gesprächs über den Spanischen Bürgerkrieg, das um Verrat und Vertrauensbruch kreiste. Javier Marías jongliert hier bravourös zwischen Fiktion und Fakten, wenn er in diesen Roman zwei ihm nahestehende und hoch geschätzte Menschen aus dem realen Leben einführt: Seinen Vater, den Philosophen und Schriftsteller Julián Marías sowie den renommierten Hispanisten Sir Peter Russel, der im Roman unter seinem eigentlichen Namen Sir Peter Wheeler auftritt. Nach der Party stösst Juan Dessa in Wheelers Bibliothek auf Julián Marías Memoiren und jene Episode gegen Ende des Spanischen Bürgerkriegs, wo der Philosoph von seinem besten Freund und langjährigen Arbeitskollegen als Roter denunziert wurde und daraufhin im Gefängnis landete. Auch nach seiner Freilassung durfte Julián Marías seine akademische Laufbahn nicht wieder aufnehmen, was er mit Gleichmut und ohne Hass oder Groll auf den Verräter hinnahm.


    Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist ungeschönt und unverhohlen die meines Vaters Julián Marías, der Philosoph und Schriftsteller ist. Er ist mittlerweile neunzig und hat mit achtzig seine Memoiren veröffentlicht. Darin hat er auch diese Episode erzählt, allerdings ganz anders, als ich in diesem Roman. Obwohl ich diese Episode übernommen habe, habe ich sie doch so erzählt, wie sie meinem Vater im realen Leben zustieß; zur Fiktion wird sie erst, wenn sie Juan Dessa in diesem Roman erzählt. Nachdem ich sie aufgeschrieben hatte, las ich sie meinem Vater vor; er war damals schon achtundachtzig und sein Augenlicht so schlecht, dass er kaum noch lesen konnte."

    Javier Marías zufolge hatten die beiden alten Herrn um die neunzig – Julían Marías und Sir Peter Russel- einen maßgeblichen Einfluss auf den Publikationsrhythmus des Romans. Ihretwegen wird das ursprünglich auf einen einzigen Band angelegte Opus nun in drei Bänden erscheinen, ohne jedoch eine Trilogie zu sein und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die beiden Herren, die an seiner Entstehung regen Anteil genommen haben, sollten dessen Veröffentlichung noch miterleben.

    Der zweite Teil des Romans spielt in London, wo Juan Dessa als Dolmetscher bei Verhören für einen gewissen Herrn Tupra arbeitet. Anhand von Sprache und Aussehen, soll er Rückschlüsse auf den Lebenswandel der ihm vorgeführten Personen ziehen. Konkret sieht das dann so aus: Wie ist dieser venezolanische Oberst Bonanza einzuschätzen, der sich derzeit auf Europareise befindet? Gehört er etwa zu denen, die einen Putsch gegen die Chávez – Regierung planen? Anhand dieses und anderer "Fälle" stellt Juan Dessa weitschweifige Überlegungen zum Grundthema Vertrauen und Verrat, Schweigen und Reden. an. Dabei kommt er, ausgehend von seinen eigenen Beobachtungen und Wahrnehmungen, immer wieder auf Peter Wheeler zurück, der im II. Weltkrieg für den britischen Geheimdienst in Asien und Afrika tätig und zu einem Höchstmaß an Diskretion und Schweigen verpflichtet war. Wer nun annimmt, Javier Marías geißele den staatlichen Überwachungsapparat , hat seine Erwartungen zu hoch geschraubt. Der Autor diagnostiziert nur anhand etlicher Beispiele wie infolge von Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit die Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt wird, wenn er – ich zitiere – konstatiert:

    Und man erlaubt nicht den langen Blick, wie Tupra ihn hatte, den Blick, der am Ende das in dieser Weise Angeschaute verwandelt. Augen, die verweilen, sind heute beleidigend, und deshalb müssen sie sich hinter Vorhängen und Ferngläsern und Teleobjektiven und fernen Kameras verstecken und von ihren tausend Bildschirmen aus spionieren.

    Gelegentlich fragte ich mich, leicht verloren in all den Variationen über das Grundthema Vertrauen und Verrat, wo ist der rote Faden? vergaloppiert sich Javier Marías da nicht, verliert er sich nicht in seinen Beobachtungen und gewundenen Gedankengängen? Abgeschwächt werden diese Bedenken jedoch, wenn ich mir vor Augen halte, wie wunderbar Javier Marías über alle Aspekte der menschlichen Sprache zu schreiben vermag – vom Schweigen, über das Geschwätz und Geplapper bis hin zu diesem äußerst kostbaren und selten Gut: das passende Wort, das Gehör findet.