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Vertriebene Wissenschaftler
Schwerer Start in der Neuen Welt

Weil sie Juden oder politische Gegner der Nationalsozialisten waren, suchten viele Wissenschaftler ab 1933 Zuflucht in den Vereinigten Staaten. Christian Fleck zeigt in seinem Buch, unter welchen Bedingungen der akademische Neustart gelingen konnte - oder scheiterte.

Von Anne-Kathrin Weber | 02.03.2015
    Der Nobelpreisträger Albert Einstein hat geschrieben, und zwar einen Empfehlungsbrief nach dem anderen, zugunsten von Wissenschaftlern, die vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen wollten. Genutzt haben die eifrigen Bemühungen des weltberühmten Physikers für Kollegen auch aus anderen Fachrichtungen allerdings wenig, wie Christian Fleck schildert:
    "Das Prestige eines Befürworters allein vermochte wenig auszurichten, ja allzu großzügiges Lob durch Prominente erfuhr über kurz oder lang inflationäre Entwertung."
    Der Soziologe Fleck filtert in seiner detaillierten Studie die Faktoren heraus, die für den beruflichen Neuanfang emigrierter deutscher und österreichischer Wissenschaftler in den USA wichtig waren. Er beschäftigt sich vor allem mit der Rolle einer amerikanischen Hilfsorganisation, dem "Emergency Committee in Aid of Displaced German - später Foreign - Scholars". Dieses Komitee half Wissenschaftlern, die ab 1933 unter den Nazis Berufsverbot erhielten, weil sie jüdisch waren oder als politische Gegner klassifiziert wurden.
    Je mehr persönliche Beziehungen, desto größer die Chancen
    In Amerika etablieren konnten sich Fleck zufolge vor allem solche Forscher, die sich bereits in Deutschland oder Österreich einen akademischen Namen gemacht hatten. Das galt nicht nur für diejenigen, die ohne fremde Hilfe Fuß fassen konnten. Auch für die Förderung durch Hilfsinstitutionen waren das wissenschaftliche Prestige und ein gewisser Habitus wichtig. Denn:
    "Im Zweifelsfall war die Würdigkeit wichtiger als die Bedürftigkeit."
    Persönliche Beziehungen spielten, wenig überraschend, ebenfalls eine zentrale Rolle. Wer es verstand, einflussreiche Mentoren aus der eigenen Disziplin und Universitätsleitungen für sich zu gewinnen und eigene Netzwerke aufzubauen, der hatte größere Chancen. Dabei galt auch: Je exklusiver die Empfehlung, desto besser.
    Wichtig für den Neustart in den USA war laut Fleck auch eine gewisse geistige und kulturelle Flexibilität, vom europäischen Wissenschaftssystem auf das amerikanische umzusatteln. Der Autor zeigt, dass hieran einige vielversprechende Wissenschaftler scheiterten - wie etwa der Soziologe und Philosoph Edgar Zilsel, der sich 1944 in den USA das Leben nahm.
    Gänzlich unbekannte Akademiker konnten auch in den USA keine Karriere machen. Es sei denn, sie und ihre Helfer versuchten sich an dem, was Fleck "kreative Buchhaltung" nennt:
    "Statt nicht vorhandener Veröffentlichungen verwies man auf in Arbeit befindliche oder auf verloren gegangene oder gar auf von der Gestapo konfiszierte Manuskripte. An die Stelle fehlender, in der Sache begründeter eigener wissenschaftlicher Verdienste trat die Berufung auf jene ihrer Lehrer. Man übersetzte Funktions- bzw. Stellenbezeichnungen in denkbar vorteilhafter Weise und wo es keine Position gab, die man verloren hatte, erfanden manche eine."
    Objektive Kriterien blieben oft auf der Strecke
    Glück, Zufälle, Sympathien - auch das war für den Erfolg in Amerika wichtig. Fleck zeigt das anhand einiger exemplarisch dargestellter Fallstudien wie etwa über den Soziologen Paul Lazarsfeld, der sich im Gegensatz zu Zilsel etablieren konnte. Die Akten des Emergency Committee machen deutlich, dass bei der Bewerberauswahl objektive Kriterien mehr als einmal auf der Strecke blieben.
    Die wissenschaftlichen und administrativen Helfer mussten außerdem auf den Umstand Rücksicht nehmen, dass durch die vorangegangene Weltwirtschaftskrise viele amerikanische Akademiker arbeitslos geworden waren. Auch deshalb konnten sie nicht jeden vielversprechenden Wissenschaftler aus dem Ausland fördern.
    Vor diesem Hintergrund bezweifelt Fleck die oft von anderen Forschern angeführte These, dass es das eigentliche Ziel der amerikanischen Hilfsbereitschaft gewesen sei, die besten Wissenschaftler der Welt in die USA zu locken:
    "Nichts wäre falscher als der Eindruck, dass das viel strapazierte Bonmot von ‚Hitler, der die Bäume schüttelte und den amerikanischen Universitätspräsidenten, die die Äpfel einsammelten', ein realistisches Bild zeichnet. Manche der Äpfel fielen zwar, verfingen sich aber im Geäst, andere, die gar nicht geschüttelt wurden, hielten nach einem weichen Landeplatz Ausschau und nach jenen, die tatsächlich am Boden landeten, griffen die Sammelnden nicht immer entlang so einfacher Kriterien wie Größe und Reifezustand; ja manche der Herabgefallenen reiften erst dank der helfenden Hände der Äpfelsammler (Pflücker gab es keine)."
    Fleck zufolge waren es tatsächlich moralische Motive, die vertriebenen Wissenschaftler zu unterstützen. Allerdings war es eben eine standesbewusste Moral: von Wissenschaftlern für Wissenschaftler.
    Dass die Empfehlungsschreiben und Gesprächsnotizen über die geflüchteten Forscher oft deutlich antisemitische Aussagen enthielten, schmälert nach Ansicht Flecks die Verdienste der Helfer nicht substanziell.
    Flecks eher wohlmeinende Interpretationen zugunsten der Helfer überzeugen nicht an jeder Stelle und manche seiner Formulierungen klingen etwas unbedarft. So sei das von ihm untersuchte Emergency Committee bei der Bewerberauswahl - Zitat - "ein klein wenig Genderdiskriminierend" vorgegangen. An anderer Stelle spricht er von der Atlanta University, die eine - so wörtlich- "Negro Institution" gewesen sei - ohne diesen Terminus in Anführungszeichen zu setzen oder den heute als rassistisch und herabwürdigend eingestuften Begriff entsprechend einzuordnen.
    Neben einigen unglücklichen Formulierungen wie diesen ist die ausgiebige Quellenarbeit, die Fleck betreibt, Fluch und Segen gleichermaßen. Denn wer kein Experte für Wissenschaftsgeschichte ist, dem kann beim Lesen schwindelig werden - oder langweilig.
    Das tut den übergeordneten Erkenntnissen, die Fleck zutage fördert, jedoch keinen Abbruch. In seiner stimmig konzipierten Studie gibt der österreichische Soziologe tiefe Einblicke in die institutionalisierte Hilfe für die nach Amerika ausgewanderten Wissenschaftler. Darüber hinaus erzählt Fleck auch die Geschichten jener Wissenschaftler, die - anders als die Biografien berühmter emigrierter Forscher - bisher wenig bekannt sind.
    Christian Fleck: "Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933"
    475 Seiten, Campus Verlag, 39,90 Euro