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Verwandlungsraum der Seele

Als in den 1970er Jahren in Schwedens Norden die unverantwortliche Rodung des Waldes begann, entstand bei Kerstin Ekman die Idee für "Der Wald". Was nach einem beschaulichen Spaziergang in romantischer Manier klingt, erweist sich als ein vielschichtiger Essay von poetischer Kraft. Die schwedische Autorin tritt auch in einen spannenden Dialog mit Autoren, die in der Tiefe des Waldes Angst und Schrecken thematisieren.

Von Antje Ravic Strubel | 28.09.2008
    "Wir Nordeuropäer sind irgendwann alle aus dem dunklen Wald gekommen."

    Das sagt Kerstin Ekman in ihrem großen essayistischen Buch zum Wald. Sie unternimmt den Versuch, im Sinne der Enzyklopädisten Licht ins Dunkel des Waldes zu bringen, ihn in seiner Tiefe, seiner Vielfalt zu erfassen. In brillanten Essays lässt sie den Wald mit einer überwältigenden Fülle an Material zur Sprache kommen; seine Tiere und Pflanzen, seine Gefahren, seine Undurchdringlichkeit. Der Wald stellt die Grenze des Menschlichen dar, die Grenze der Kultur.

    Er ist Nutz- und Todbringer, Spiegel des Unbewussten und Quelle der Fantasie. Der Wald hat Anstoß gegeben zu so wichtigen Erfindungen wie dem Rad; das Holzrad war in den Jahresringen der Bäume vorgegeben. Die Namen, die man sich über Jahrhunderte hinweg für den Wald ausdachte, sprechen von dem, was es dort zu holen gab; der Totholzwald, der Eckernwald, der Bastwald, der Pilzwald, wood im englischen kündet vom Wald als Bau- und Brennholzreservoir.

    Ekman muss bald feststellen, dass schon der Anspruch auf Vollständigkeit zwecklos ist. Zu komplex ist dieses Gebilde, zu veränderlich, zu häufig beschrieben und besungen. Und das Ökosystem des Waldes ist bis heute nicht bis in die Tiefe hinein erforscht. Die Erde hat 400 Millionen Jahre gebraucht, um Wälder hervorzubringen, der Mensch braucht weitaus weniger lange, um sie wieder zu vernichten, das allein scheint sicher.

    "Viele Jahre habe ich in einer Waldlandschaft mit einem unendlichen Reichtum an Arten gelebt. Ich bin in ihnen umhergewandert, einen Hauch von Bittermandel und Anis als flatterige, schnell flüchtige Richtungsanzeige in der Nase, und habe schließlich die alte Salweide gefunden, aus deren rauem Stamm der sahnegelbe Wohlriechende Weidenporling sprießt. Wenn sich der Luchs in der Unruhe seiner Brunst durch den Märzschnee bewegt hatte, habe ich die Spur dieser großen Katze gesehen. Ich bin Pfade gegangen, in die früher die dreißig, vierzig Pferde des Dorfes mit ihren Hufen den Sommer eingetrampelt hatten. Jetzt werden diese Wälder in Verjüngungsflächen verwandelt. Es werden Monokulturen aus Kiefern oder Fichten daraus. Und es wird still. Ich habe in einer Welt gelebt, die im Verschwinden begriffen ist."

    Kerstin Ekmans Buch ist eine einzigartige, große Beschwörung dieser verschwindenden Welt. Das Verschwinden selber treibt das Schreiben an, die Angst, dass das, was hier unerwähnt bleibt, für immer verloren sein könnte. Eine leise Melancholie hängt über diesem Buch und bringt seine unerhörte Vielschichtigkeit zum Leuchten. Und da es schlicht unmöglich ist, das Wuchern des Waldes im Denken und in der Natur in Vergangenheit und Gegenwart vollständig in den Griff zu bekommen, geht Ekman ins Detail.

    Sie betrachtet all die Interpretationen und Konzepte, die über Jahrhunderte hinweg unsere kollektiven Vorstellungen und unser Wissen vom Wald geprägt und ausgebildet haben. Sie zeigt, dass der Wald das ist, was man aus ihm macht. Die Sichtweisen und die Handlungen des Menschen haben ihn von Anfang an gestaltet und verändert. Wie der erste, ursprüngliche Wald einmal ausgesehen hat, lässt sich nicht sagen.

    Während ihres langsamen Umherstreifens durch die Wälder Europas und besonders durch ihren heimischen Wald in Schweden begibt Ekman sich auf Spurensuche in die Literatur. Beginnend beim Gilgamesch-Epos und seinem gefährlichen Zedernwald, über den sagenhaften Wald des mittelalterlichen Ritterliedes, Dantes paradiesischen Wald in der Göttlichen Komödie gelangt sie zu Goethes unheimlichem Wald im Erlkönig oder zu Shakespeares verzaubertem Wald im Sommernachtstraum, zu Heinrich Heines Harzreise, zu Strindberg, Tschechow und Astrid Lindgrens Ronja Räubertocher.

    Sie befragt nicht nur die Literatur. Die Berichte und Reiseschilderungen des Ethnografen und Naturkundlers Olaus Magnus aus dem 16. Jahrhundert hat sie gelesen, die Reisebeschreibungen und botanischen Bestimmungsbücher des Naturforschers Carl von Linné sind ihr nah. Sie schildert Rousseaus Naturromantik ebenso wie die Thoreaus und gleicht die philosophischen Ansichten mit eigenen Funden und Walderlebnissen ab.

    Folgt sie beispielsweise dem Naturforscher Linne, werden Natur und Wald überschaubar und geordnet. Sie sind allein zum Nutzen des Menschen da. Folgt sie dem Philosophen Rousseau, sieht sie die Natur als vom Menschen, von Kultur und Zivilisation verdorben; ein Gedanke, der heute am radikalsten von Veganern und Aussteigern vertreten wird. Hält sie Linne die Verherrlichung des Menschen als Krone der Schöpfung vor, hält sie Rousseau vor, dass er sich die Wildnis in seiner ländlichen Schweizer Idylle nur schön geredet habe. Einer Erfahrung in unzugänglicher Wildnis, wie Linne sie auf seiner Forschungsreise durch Lappland machte, hat sich Rousseau entzogen.

    Manchmal klingt die weise Ironie dieser großen, kühlen Erzählerin an, wenn sie beispielsweise schildert, wie sie mit dem gelben Kanadier Henry David Thoreau übersetzt: Sie meint ihr Kanu, das den Namen des Schriftstellers trägt. Nur mit diesem Kanu gelangt sie über das Wasser zu ihrer abgelegenen Almhütte in Hotagen, wo sie in hellen lappländischen Nächten "Walden oder Leben in den Wäldern" las, Thoreaus romantische Vision von einer unberührten Wildnis.

    "Alles, was Thoreau von seinen Streifzügen im Wald erzählt, habe ich wiedererkannt. Aus seiner Kenntnis der Wälder rings um den Walden Pond hatte sich eine Art Eigentümerschaft durch Vertrautheit entwickelt. Nach ein paar Jahren in Hotagen bekam auch ich diese Einstellung. Ich begriff nicht, dass dieses Waldreich nur sehr vorübergehend meines war. Jetzt, nach dreißig Jahren sind die alten Pfade vernichtet. Die Alm liegt wie eine Waldinsel mitten in einem bewirtschafteten Areal aus Kahlschlägen, Forststraßen und Holzlagerplätzen."

    Ihre Waldstreifzüge durch norrländische Urwaldlandschaft, lappländische Fjälls oder die Erlen- und Fichtenwälder Mittelschwedens statten Ekman mit einer genauen Kenntnis der Pflanzen- und Tierwelt aus. Den Wald hinter ihren Häusern, in denen sie im Laufe ihres Lebens wohnte, liest sie gleichzeitig wie ein Geschichtsbuch.

    Einmal geben ihr menschliche Spuren an den Bäumen Auskunft über die Brände, die der russische Zar Peter der I. während der Friedensverhandlungen mit Schweden 1719 an der schwedischen Ostküste legen ließ, ein andermal über Schwendwirtschaft und Heidbrand der Bauern des Mittelalters. Eine Erinnerung an ihre Kindheit in Katrineholm führt sie zum Wald der steinzeitlichen Schärenbauern. Und einem ihrer Kinderträume von einem fantastischen, endlosen Wald ist auch dieses Buch zu verdanken.

    "Der Wald bildete ein grünes, wogendes Dach über Europa, und Feuer konnte ich nur in Lücken und Lichtungen schimmern sehen. Ich sah sie immer in der Abenddämmerung. Es war mein Traum vom Fliegen, wie vielleicht alle Menschen einen haben. Aber natürlich fliegen nicht alle über einen Wald."

    Die große Kunst der 1933 geborenen Autorin ist es, ihr enormes Wissen zu einer faszinierenden kulturhistorischen Abhandlung, zu einer Enzyklopädie des Waldes zu fügen, die so leicht und unterhaltsam ist wie ein Spaziergang. Und man bewundert die große stilistische Sicherheit und auch die Ausdauer der Übersetzerin Hedwig Binder, die in umfassender Recherche für jeden der unzähligen Begriffe aus Fauna und Flora ein Äquivalent im Deutschen gefunden hat.

    "Auf der Wiese, den Weiden und in den Laubholzhainen blüht es ununterbrochen. Es beginnt jedes Jahr mit den Leberblümchen, dann kommen die Buschwindröschen und der Gefingerte Lerchensporn, und im Laufe des Sommers bekommt man Fliegenragwurz, Fleischrotes Knabenkraut, einen kleinen Farn namens Gewöhnliche Natternzunge, Feldenzian, Haarsegge, Mücken-Händelwurz, Großen Klappertopf, Purgierlein und vieles andere mehr zu sehen. Unter den Bäumen findet man Waldsanikel, Zwiebelzahnwurz, Schwarze Teufelsbeere, Waldtrespe, Fleischige Schuppenwurz und Vogelnestwurz. Und die kleinen Katzenpfötchen schleichen die Steinhänge hinauf."

    In dieser Idylle klingt nichts von jener Waldangst an, die die Menschen des Nordens schon immer beherrscht hat. Auch wenn die bekannteste erste literarische Beschreibung dieser Angst "im schrecklichen Walde" in Dantes Göttlicher Komödie steht, in der der Wald sich schließlich zu einem hellen, utopischen Raum wandelt, wurde die Waldangst in der nordischen Literatur bereits vor dem 14. Jahrhundert heraufbeschworen.

    Im Norden bleibt der Wald bis zum Schluss schrecklich, bitter und dunkel. Es ist jener germanische Wald, an dem Cäsar auf seinem Eroberungszug schließlich scheiterte und den Tacitus in seiner Germania als unwirtlich, wüst, rau und trostlos beschrieb. Diesem Wald fehlt das Milde, licht belaubte Südeuropas, wo er zum Ort für Schäferstündchen und zur Projektionsfläche für paradiesische Vorstellungen wurde.

    In der nordischen volkstümlichen Tradition ist der Wald weder fruchtbares Landschaftsideal, noch Ausdruck von Gottes sinnvoller Schöpfung. Hier steht er für die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur und kann so schreckliche Wesen hervorbringen wie Gnome, Bergtrolle, Werwölfe oder die kinderfressende fünfzehnschwänzige Hexe Grýla. Trolle und Elfen gehörten ursprünglich zum Gefolge Luzifers. Sie sind diejenigen, die bei seinem Rauswurf aus dem Himmel nicht in der Hölle landeten, sondern danebenfielen, Wesen also, so Ekman, die außerhalb des Religiösen stehen und mehr die Sinnlosigkeit des Daseins repräsentieren als das Teuflische. Denn auch das Sinnlose, das Plan- und Zusammenhanglose lauert im Wald.

    "Lange Zeit versuchten die Männer der Kirche, die unerwünschte Gegenwart eines Volkes außerhalb der göttlichen Ordnung wegzuerklären. Später hat man angenommen, die Waldgespenster seien einfach nur die degradierten heidnischen Götter. All diese Erklärungen wehren die aufdringliche Gegenwart untermenschlicher Wesen nicht ab. Das alte Pack scheint immer wiederzukommen. Heutzutage sind es Wesen aus dem All, die in gleicher Weise wie früher die Bergtrolle Menschen entführen."

    Zur Zeit der Romantik versuchte Arvid August Afzelius in seinem Prosawerk über Volkssagen und Volkslieder von 1830 die Waldgeister, Elfen und Hexenwesen zu katalogisieren, was den Grusel in der Volkskunst, aber auch in der Kunstpoesie explodieren ließ, bis der Soziologe Max Weber mit seiner Theorie von der "Entzauberung der Welt" diesem Treiben Einhalt gebot.

    Das Grausame des Waldes, das den Menschen Krankheit, Wahnsinn und Tod bringt, hat auch Herr Olof schon zu spüren bekommen. Das Lied vom mittelalterlichen Ritter, der nach einem Waldritt an einer unsichtbaren Wunde stirbt, ist eines der ersten Zeugnisse menschlichen Vordringens in den Wald und zieht sich leitmotivisch durch Kerstin Ekmans Buch.

    Die Wunde im Wald wurde Herrn Olof nicht von wilden Tieren oder Ungeheuern zugefügt, sondern von der Tochter des Elfenkönigs, die ihn zum Tanz bittet. Der Wald von Herrn Olof ist eine Metapher für die chaotische, unfassbare Wirklichkeit; eine Metapher, die angesichts der heutigen überschaubaren Wäldern Europas ihre Gültigkeit verloren hat, aber doch lange Zeit wirkungsvoll war. Im 17. Jahrhundert wurde sie als Tanzlied zum ersten Mal schriftlich fixiert, und Goethe hat sie zu seinem Erlkönig inspiriert.

    "In Herders Sammlung fand Goethe die aus dem Dänischen übersetzte Ballade von Herrn Olof und den Elfen, die er sich wohl irgendwann vornahm. In seiner originellen Umdeutung wurde daraus das Gedicht Erlkönig. Der Name Erlenkönig beruhte auf Herders Mißverständnis des dänischen elvekong. Er glaubte, es handle sich um einen Baumgeist, einen König der Erlen. In Goethes Gedicht gibt es keine Braut, die ihren Bräutigam tot sieht und keine Elfe, die ihn zur Untreue verführen will. Übrig sind Pferd und Mensch und der Erlkönig. Die Geschichte ist eine rein männliche Angelegenheit mit stark homosexuellem Untertext. Den König reizt der schöne Körper des Knaben, und er greift nach ihm."

    Heute befindet sich der gefährliche Wald nur noch in der eigenen Psyche. Seine Verlockung ist die Verlockung des Unbewussten, die Bedrohung darin die Bedrohung des Vernünftigen und Normalen durch ungezügeltes Begehren. Das Unheimliche ist im Sinne Sigmund Freuds das Heimliche; Verdrängtes, das wieder zur Sprache zu kommen versucht.

    Ekman zeigt, wie die Psychologie den Wald zu einem Symbol innerer Verwandlungen gemacht hat. Sich darin zu verirren, bedeutet keine Lebensgefahr mehr, höchstens noch die Gefahr, verrückt oder zum Außenseiter der Gesellschaft zu werden. Das Verirren im Wald ist aber auch die Voraussetzung, am Ende den richtigen Lebensweg zu finden. Von Herrn Olof ist nur noch das Fest der Mittsommernacht übriggeblieben, bei dem die Erneuerung der Natur gefeiert wird.

    Schließlich ist es diese Natur, insbesondere der Wald, die heute gern als Lückenfüller für die verlorengegangene metaphysische Welterklärung benutzt werden. Auf der Suche nach Sinn, nach allgemeingültigen Gesetzen wird die Natur anstelle eines Gottes gesetzt. Sie bekommt den Status einer weisen Schöpferin, die das Grundgute verkörpert. Das natürliche Leben scheint das allein glücklich machende, und die Vehemenz in dieser Überzeugung lässt vergessen, dass der Sammelbegriff Natur von der Salzwüste über Aufforstungsgebiete, Hurrikans, bis hin zum Biojoghurt alles bezeichnen kann.

    Die Rückkehr zur Natur, wie sie zuerst von Rousseau gepredigt und in den bewegten 70er Jahren proklamiert wurde, endet nicht selten im Drogenrausch, wie Ekman in einem kleinen Seitenhieb auf den überzogenen Idealismus der ersten grünen Bewegungen feststellt. Im aufkeimenden Umweltbewusstsein zeigt sich aber noch eine weitere, scheinbar modernere Variante der Waldangst. Zwar warnten Naturforscher bereits vor zweihundert Jahren davor, dass die Vernichtung des Waldes am Ende den Menschen schadet. Populär ist die Warnung vor dem Unglück jedoch erst seit kurzem.

    "Wie aber sieht das Unglück aus, das uns zugefügt werden soll? Es fällt nicht schwer, zu glauben, der Wald werde sich irgendwann alles wieder holen, was er verloren hat. Dass nicht nur der Weg zur Kirche und die Dorfwiese verbuschen, sondern die Fichtentriebe auch durch den Asphalt der Champs Elysees brechen werden. Dass Sergels Torg in Stockholm zu einem Erlensumpf wird und das Brandenburger Tor ein undurchdringlicher Mischlaubwald. Es liegt sogar eine böse Genugtuung in einem solchen Traum von der Bedrohung durch den Wald. Die andere Bedrohung ist schlimmer. Verarmung, am Ende womöglich gar Vernichtung. Nur solange es den Wald gibt, können wir atmen."

    Ekman lässt es nicht bei der bloßen Rhetorik bewenden. Sie weiß, wie die konkrete Bedrohung aussieht, weiß, dass es nur noch hundert Wölfe in Schweden gibt, dass die Bären vom Aussterben bedroht sind, dass die Lachse verschwinden. Die Jagd auf Schwäne und Eichhörnchen, im 19. Jahrhundert populär, wurde eingestellt. Aber die Elchjagd zieht jeden Herbst massenhaft Touristen an, Fangeisen zur Bärenjagd sind noch nicht aus der Welt. Ihre Empathie macht Ekman aber nicht zur eifernden Tierschützerin, dazu kennt sie auch die andere Seite, die Seite der Jäger und Waldarbeiter zu gut.

    Sie weiß, wie man einen Elch aus der Decke schlägt, denn sie hat es selbst getan. Diesem Erlebnis ist eine jener Stellen in diesem Buch zu verdanken, die daran erinnern, dass Literatur ihrem Gegenstand gegenüber amoralisch zu sein hat; der Aufgabe verpflichtet, das Wesen der Existenz in Sprache zu bringen.

    "Dem Tier fließt Blutwasser aus dem Maul, als wir seinen großen Kopf herumdrehen. Der Elch hat einen gewaltigen Komplex an Mägen: Labmagen, Blättermagen, Netzmagen. Aus dem Bauch dampfen stickige Körperwärme und Mief. Die Lungen sind hell graurot, und wo der Schuß in die poröse Masse eingetreten ist, haben sich blauviolette Blutkuchen gebildet. Schneiden und sägen. Knochensplitter, dunkles Fleisch. Gewaltige Rippen wie die Spanten eines Schiffs. Der Atlas wird gebrochen, der Kopf ist ab, und die Zunge wird eingezogen und herausgeschnitten. Die Schulterstücke lösen sich. Die Keulen, das Rückgrat in drei Teilen. Schließlich ist die Decke leer, und der Kopf liegt zungenlos im Heidekraut. Auch die Leber, die Gurgel und die Nieren sind dort, mit Zwergbirkenlaub bedeckt. Das Herz ruht im Moos. Der erste Rabe fliegt darüber."

    Der Forstwirtschaft ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Am Beispiel von Schwedens Umwelt- und Wirtschaftspolitik wird ein globaler Widerspruch sichtbar; gesellschaftlicher Wohlstand ist nur auf Kosten gnadenloser Ausbeutung natürlicher Ressourcen möglich. Ekmans Buch ist jedoch kein umweltpolitisches Manifest. Sie hat Schwedens Entwicklung vom armen Bauernland zum heutigen Wohlfahrtsstaat noch persönlich erlebt, und statt sich einfach auf die Seite der Moralisten zu schlagen, taucht sie in die Geschichte der Forstarbeit ein, berichtet von Gesprächen mit Waldarbeitern, die ihre Familiengeschichte noch bis in die Pionierzeit hinein zurückverfolgen konnten.

    Als der Wald-Rush vor etwa hundertfünfzig Jahren begann und die Sägewerksgesellschaften den Bauern ihre Abholzungsrechte abkauften, kamen Schnauzer und Spitzbart, Otterfellmütze und Seehundstiefel in Mode, als Zeichen des neuen Reichtums, der nicht immer lange hielt und hart erkämpft werden musste. Später wurden Axt und Fuchsschwanz von Zugsäge und Schäleisen ersetzt, schließlich von Motorsägen, Grubbern, Packzangen, und in den 70er Jahren, als die Zeit der Massenrodungen mit Holzerntemaschinen begann, übernahmen Lastwagen die Arbeit der Pferdefuhrwerke, die zuvor die Stämme zum Wasser geschafft hatten, wo sie zu den Sägewerken getriftet wurden.

    "Die Arbeit der Holzfäller konnte bereits im frühen Herbst beginnen, der Hauptteil der Holzbringung erfolgte jedoch, sobald Schnee und Eis trugen. Außer Holzfällern und Fuhrmännern gab es im Jagen noch Vorbringer und Rücker und manchmal auch einen Vorarbeiter. Die Aufgabe des Vorarbeiters war es, den Weg befahrbar zu halten. Dazu begoss er ihn mit Wasser, so dass er glatt wurde, gefror und gut trug. Zum Bremsen an den Hängen schaufelte er Ameisenhaufen auf den Weg. War dieser steil und kurvig und seitlich geneigt, legte er Leitstangen aus."

    Und dann macht Ekman ihrer Wut doch noch unverhohlen Luft. Als Fährtenleserin und Spaziergängerin durch die Wälder der Jahrhunderte sind ihr Kahlschläge, Brachen und Monokulturen nicht egal. Sie alle künden vom Verschwinden des Waldes. Auch im heute so umweltbewussten Schweden wurde zwischen 1920 und 1980 fast ein Viertel des Mischwaldes mit staatlicher Unterstützung abgeholzt. Erst 1992 wurde die Besprühung von Kahlschlägen mit Phenoxysäuren verboten. Man hatte schlau verhindern wollen, dass sich dort Laubwald ausbreitet, wo die Aufforstung mit Nadelwald mehr Profit bringt, und nahm dafür die Entwicklung krebserregenden Dioxins in Kauf. Und noch immer sind aufgrund massiver Rodungen 21.000 Tier-und Pflanzenarten bedroht.

    Auch daher rührt die Melancholie in diesem Buch, eine Melancholie, die gleichermaßen typisch sei für die Menschen des Nordens, so Ekman. Im Norden drücke sich die Liebe zur Natur schon immer in der Klage über das Verschwinden, den Zerfall aus. Der Zerfall sei zwar die Voraussetzung für alles Lebendige, seine heutige Dimension übersteige aber jegliche Möglichkeit zur Erneuerung. Selbst den demokratischen Gesellschaften, die Ekman allein in der Lage sieht, den Wald zu retten, ist es nicht gelungen, das Verschwinden einzudämmen. Den letzten schwedischen Altwäldern mit Edellaubgewächsen in Norrbottens Län wurde 2004 der Status eines Naturschutzgebietes verweigert. Im östlichen Polen, schreibt Ekman, gebe es das letzte große Gebiet eines europäischen Urwalds, aber niemand wisse, wie lange noch.

    "Nie hat der Mensch so viel Macht über die Erde besessen, die er, um auf ihr und von ihr zu leben, bekommen hat. Wir haben die Macht des Begehrens. Den Zwang des Verzichts kennt die moderne Zivilisation nicht. Der Begriff Wald wird von den Vertretern der Holzwirtschaft anders definiert als von den Umweltdebattierern. Und der Weißrückenspecht definiert ihn dadurch, dass er lebt oder stirbt. Ein Forstbürokrat wie Nils-Erik Nilsson definiert ihn überhaupt nicht; er hält in Sveriges Nationalatlas den Begriff Wald für verbraucht."

    Schon in der Gilgamesch-Sage wird abgeholzt. Und in Anton Tschechows Onkel Wanja gibt es einen Monolog, in dem vor dem Raubbau am russischen Wald gewarnt wird. Noch heute, schreibt Kerstin Ekman, sei es immer ausgerechnet dieser Monolog, der auf den Bühnen radikal zusammengekürzt werde. Das Gespräch zum Wald sei nicht so interessant, lautet ihr Fazit. Ihr Buch zeigt das Gegenteil. Damit hat sie dem Wald, der täglich verschwindet, in seiner gewaltigen Größe und Schönheit ein Denkmal gesetzt. Bleibt zu hoffen, dass einiges davon immer noch da ist, wenn man dieses wuchtige Buch zu Ende gelesen hat.

    "Als ich größer war und verschiedene Dinge durchdenken konnte, legte ich mich gern auf den Rücken und schaute in die Baumkronen. Sie bildeten einen Kreis über mir. Ich legte mich ziemlich oft hin, um die Sache zu kontrollieren. Es stimmte: Sie bildeten jedes Mal einen Kreis. Das erstaunte mich, und dieses Staunen hat sich gehalten. Jetzt bin ich alt und vernünftig, und ich habe gelesen, was ein Wald ist, und weiß, wie es ist, wenn er verschwindet. Dring hier ein, wenn du deinen Eimer mit Sanddorn aus dem letzten Schutzkranz gefüllt hast, und hör der Drossel Schattenlied zum Abschied des Sommers, der einen ebenso wunderlichen Namen trägt wie der Wald. Allein in diesem Sommer gab es zwanzig oder mehr Sommer, und einer davon war sehr entfernt und schummrig und roch nach Baldrian und dem Rauch einer Zigarette, die im Moos ausgedrückt wurde."
    Kerstin Ekman: Der Wald. Eine literarische Wanderung
    Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
    Piper Verlag, München/Zürich 2008
    528 Seiten, 24,90 Euro