Donnerstag, 25. April 2024

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Verwirrendes Kaleidoskop

Alles was Sie in diesem Zimmer sehen, oder besser gesagt, in diesem Lager, haben die Vormieter zurückgelassen; daher werden Sie nicht viel sehen, was mir gehört, aber ich ziehe diese Utensilien des Zufalls vor. Ihre Verschiedenartigkeit hindert mich daran, mich auf eine einseitige Reflexion zu beschränken, und in diesem Labor, dessen Hilfsmittel ich einer systematischen Bestandsaufnahme unterziehe, läuft meine Imagination weniger Gefahr, auf der Stelle zu treten.

Von Stefan Fuchs | 21.10.2004
    Mit diesem Zitat des französischen Kunstkritikers Robert Lebel beginnt Julio Cortázar seine Reise um den Tag in Achtzig Welten. Und tatsächlich ist das, was den Leser erwartet, eine mindestens so abenteuerliche und atemlose Durchquerung der Wirklichkeit wie weiland Phileas Foggs Reise um die Welt in achtzig Tagen aus der Feder Jules Vernes. Cortázar präsentiert ein verwirrendes Kaleidoskop, eine spiralartige Bewegung durch die unterschiedlichsten Text- und Kunstgattungen. Da stehen ausgewachsene Erzählungen Seite an Seite mit Reflexionen über das Schreiben, politische Diskurse neben autobiographischen Skizzen.

    Da erscheint Cortázars Schreibtisch im südfranzösischen Cazeneuve, auf dem sich ein Kater mit dem Namen Theodor W. Adorno räkelt. Eine Omnibusfahrt von Athen nach Kap Sunion wird zum Experiment, das beweist, dass unsere Erinnerungen niemals wirklich die unsrigen sind, sondern Gott weiß wem gehören. Louis Armstrong, der schweißgebadet, sein unvermeidliches Taschentuch schwingend "When it’s sleeping time down South" singt, wird unversehens zu einer jener Heiligenfiguren auf alten Fresken, aus deren Mündern goldene Banderolen quellen. Zitate, fremde Bilder und vom eifrigen Leser und Sammler Cortázar aufgelesene Motive bilden ein dichtes Geflecht in diesen Texten. Cortázars Diskurs stößt sich ab von ihnen, entwickelt sich jazzartig variierend in den Zwischenräumen, widerspricht ihnen unvermittelt, als wären sie nur eine optische Täuschung.

    Dabei steckt hinter dieser Zitierwut etwas ganz anderes als Nostalgie. Cortázar versucht ein literarisches Äquivalent der "Ready-Mades" eines Marcel Duchamp. Die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Operationstisch der Literatur soll der lyrischen Bruststimme des bürgerlichen Ich den Garaus machen. "Ich ist ein Anderer" heißt die apodiktische Formel bei Arthur Rimbaud, mit dem Cortázar eine tief empfundene Wahlverwandtschaft verbindet.

    Das logische Verhalten des Menschen ist immer bestrebt, die Person des Subjekts zu schützen, sich angesichts des osmotischen Einbruchs der Wirklichkeit zu verschanzen. Denn wenn der Mensch davon besessen ist, Dinge zu erkennen, geschieht es immer ein wenig aus Feindschaft, aus Furcht, aus der Fassung zu geraten. Dagegen verzichtet der Dichter darauf, sich zu verteidigen. Er verzichtet darauf, im Akt des Erkennens eine Identität zu bewahren.

    Sich dem übermächtigen Sog der Identität entgegenzustemmen, das krebsartige Wuchern des Eigenen zu unterbinden, der Gefangenschaft im Schneckenhaus des tautologischen Selbst zu entrinnen, ist für Cortázar Grundbedingung einer Erfahrung, die diesen Namen verdiente. Es ist eine besondere Gattung Mensch, die diese Fähigkeit gleichsam von Natur aus besitzt. "Cronopien" hat Cortázar sie genannt. Sie charakterisiert das "Gefühl, nicht ganz da zu sein" wie einer der programmatischen Texte der "Reise um den Tag" überschrieben ist.

    Mir passiert es, dass ich manchmal größer bin als das Pferd, das ich reite, und bisweilen falle ich auch in einen meiner Schuhe und stoße mich fürchterlich, ganz zu schweigen von der Arbeit, da wieder herauszukommen, die mit den Schürsenkeln Knoten um Knoten fabrizierten Leitern hochzuklettern und dann, schon am Rand, die schreckliche Entdeckung zu machen, dass jemand den Schuh in einen Kleiderschrank weggeschlossen hat.

    Das Phantastische ist Cortázars Skalpell, mit dem er die glatte Oberfläche der verhärteten Identität zerschneidet. Aber er tut dies im Unterschied zu seinen literarischen Vorbildern Edgar Allan Poe und Franz Kafka bewusst kindlich spielerisch, verwehrt sich den tragisch-apokalyptischen Aspekten des Phantastischen. Deutlich wird, dass die phantastische Gegenwelt für Cortázar nicht nur die dunkle und bedrohliche Rückseite der Vernunft ist, sondern dass sie auch die Hoffnungen auf eine ganz andere Welt birgt, in der die Menschen dieser Verhärtung im Eigenen glücklich entronnen wären.

    Eben jetzt gefällt mir dieser kleine gelbe Stein, eben jetzt gefällt mir "Das letzte Jahr in Marienbad", eben jetzt gefällt mir diese unglaublich schnaubende Lokomotive in der Gare de Lyon, eben jetzt gefällt mir dieses abgerissene, schmutzige Plakat. Eben jetzt gefällt es mir ungeheuer, eben jetzt bin ich der vollkommene Idiot in seiner Idiotie, der nicht weiß, dass er ein Idiot ist, und der in Wonne badet, bis der erste intelligente Satz ihm wieder seine Idiotie bewusst macht.

    Nicht als professioneller Literat reagieren, sich unter allen Umständen kindliches Staunen und Freude am Spiel erhalten, das ist Cortázars Strategie für einen gleichsam natürlichen Umgang mit dem Phantastischen, der den "skandalösen Unterschied zwischen dem Gewöhnlichem und dem Ungewöhnlichen" verschwinden lässt.

    Dabei sind es nicht allein die literarischen Versatzstücke und Zitate, die aus der "Reise um den Tag" diese abenteuerliche Expedition durch ein Kuriositätenkabinett machen. In Zusammenarbeit mit dem argentinischen Künstler Julio Silva ist eine an Max Ernst erinnernde Text-Bild-Collage entstanden. Fotographien, Embleme, Bilder und Typographie erweitern das Spiel mit dem Fremden weit über die Literatur hinaus. In der Neuausgabe des Suhrkamp-Verlages kann man das leider nur erahnen. Für den 90. Geburtstag Julio Cortázars hätte man sich da schon ein Faksimile der Originalausgabe von 1967 gewünscht.

    Julio Cortázar
    Reise um den Tag in 80 Welten / Letzte Runde
    Suhrkamp, 325 S., EUR 24,90