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Verzweifelte Suche nach Gefühlsausdruck

Jonathan Coe stellt in seinem neuen Roman einen Mann ohne Eigenschaften in den Vordergrund, der sich nach der Trennung von seiner Familie eingestehen muss, dass er Gefühle nicht ausdrücken kann. Coe liefert dabei auch satirische Gesellschaftskritik.

Von Johannes Kaiser | 04.04.2011
    Der 1961 in Birmingham geborene Jonathan Coe gehört in England zu den prominenten und von der Kritik hochgelobten Autoren seiner Generation, wie nicht zuletzt mehrere Literaturpreise zeigen. Seine Bücher zeigen ihn als fantasievollen, dramatischen, wortmächtigen, vor allem aber auch ironischen Erzähler, der immer wieder soziale Fragen aufwirft und satirisch-bissig mit der Politik von Thatcher bis Blair abgerechnet hat. Seit seinem vorletzten Roman 'Der Regen, bevor er fällt' beschäftigt er sich mehr mit interfamiliären Beziehungen, erst jenen zwischen Müttern und Töchtern, diesmal in neuen Roman geht es um eine Beziehung zwischen Vater und Sohn.

    Maxwell Sim ist eigentlich ein Mann ohne Eigenschaften. Er hat an wenig Interesse, liest nicht, macht sich nichts aus Kultur, zumindest nicht aus jener außerhalb des Fernsehens, hat keine Hobbys, ist nicht besonders clever oder charmant, kein Geistesriese, aber ein guter solider Verkäufer.

    Coe: "Genau das fasziniert mich an ihm, denn ich kenne eine Menge Leute, die so sind wie er, insbesondere in meiner eigenen Familie. Einige meiner Cousins, die in Vertrieb und Marketing arbeiten, führen ein Leben, das dem von Max ähnelt. Sie verbringen viel Zeit auf Autobahnen, hören Radio, essen an den Servicestationen der Tankstellen. Kultur, die in meinem Leben seit 40 Jahren so wichtig ist, existiert für sie nicht wirklich. Sie gibt es nur am Rande ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit. Sie sehen sie nicht als etwas Wesentliches an oder als Möglichkeit, sich selbst zu verstehen oder ihren Platz in der Welt zu bestimmen oder etwas dergleichen. Jahrelang habe ich über Leute aus der Welt der Bücher, des Films oder der Musik geschrieben, für die diese Dinge sehr wichtig sind oder über Politik, aber daran ist Maxwell auch nicht interessiert. Ich wollte das Innenleben jemandes erkunden, den diese äußeren Einflüsse nicht im Mindesten bestimmen. Ich wollte also jemand ganz Normales nehmen und jemanden, der so lebt wie die Mehrheit der Menschen. Dieser Fetischismus um Kultur, wie man es nennen könnte, der Ihnen und mir vertraut ist, weil wir uns in dieser Welt bewegen, hat mit dem Leben der meisten Menschen nichts zu tun."

    Es ist nicht einfach, sich für Maxwell Sim zu erwärmen, denn abgesehen von dieser Interesselosigkeit ist er ein Mensch, der unfähig ist, Gefühle zu zeigen, echte Bindungen einzugehen. So hat er eigentlich keine richtigen Freunde, nur mehr oder weniger lose Bekanntschaften. Er weiß nicht, wie er mit seiner Tochter umgehen soll, kann ihr nicht zeigen, wie sehr er sie liebt, geschweige denn es ihr sagen. Er versteht nicht, warum seine Frau gerne Schriftstellerin wäre, sich für Romane begeistert, bei denen er über der ersten Seite einschläft. So begreift er denn auch gar nicht, warum sie ihn verlässt, mit ihrer Tochter auszieht. Ihre emotionale Verarmung in der Ehe bleibt ihm verborgen. Um ihr wenigstens ein wenig nahe zu bleiben, meldet sich Maxwell unter einem Frauennamen in einem Mütter-Diskussionsforum im Internet an und hält so mit seiner ausgezogenen Frau zumindest schriftlich den Kontakt aufrecht - eine demütigende Erfahrung:

    "Caroline und ich waren ungefähr 14 Jahre zusammen. Ich kann in aller Aufrichtigkeit sagen, dass sie mir nie, nicht ein einziges Mal auch nur mit annähernd so viel Zuneigung im Ton etwas geschrieben – oder zu mir gesagt – hat wie dieser 'Liz Hammond' in ihrer ersten E-Mail. Ich will sie hier nicht zitieren – auch wenn ich große Teile davon auswendig kann -, aber ich schwöre, das niemand die Wärme, die Freundlichkeit, die Liebe, die sie in diese an eine vollkommen Fremde gerichteten Worte gelegt hat, für möglich halten würde – an eine vollkommen Fremde, die nicht einmal wirklich existierte, um Himmels willen. Ich war so schockiert, und so ... verletzt, dass ich ihr ein paar Tage lang nicht antworten konnte."


    Das Internet als Gefühlskrücke für einen beziehungsgestörten Protagonisten - Maxs Erfahrungen mit dem Netz als sozialer Kontaktbörse sind ziemlich ernüchternd. Auch, wenn seine Frau auf ihn hereinfällt, der Rest der Welt hat mit ihm wenig im Sinn. Als er vom Besuch seines Vaters in Australien zurückkehrt, ein ziemlich vergeblicher Versuch, sich aus seiner Depression nach dem Auszug seiner Familie zu befreien, findet er auf seinem Computer keine einzige Botschaft seiner vermeintlichen Facebook-Freunde. Statt persönlicher Emails ertrinkt Maxwell Sim in Spam, typischem Internet-Werbemüll für Pornos und Potenzmittel. Jonathan Coe hält offenkundig wenig vom Internet als Tor zum sozialen Leben, nachdem er sich gründlich im Netz umgeschaut und sich sogar bei Facebook selbst angemeldet hatte:

    Coe: "Die Technologie erlaubt uns heute zu glauben, dass wir ganz viele Möglichkeiten haben, mit den Leuten in Kontakt zu treten. Aber das ist kein Ersatz für das, was ich echte Liebe nenne, und Maxwells Beziehungen zur wirklichen Welt misslingen. Daraus resultiert, dass seine Beziehungen in der virtuellen Welt genauso misslingen. Dieses Buch ist keine Attacke auf Dinge wie Facebook oder soziale Netzwerke oder SMS Botschaften oder etwas Ähnliches, aber es versucht die Menschen zu warnen und daran zu erinnern, dass etwas Echtes, etwas Solides diese Art der Kommunikation stützen muss und eine Liste von Freunden auf einer Facebook-Seite bedeutet eigentlich gar nichts, solange nicht etwas Reeles hinter diesen Beziehungen steckt."

    Maxwell ist nun mal, das macht Jonathan Coe rasch klar, ein Gefühlskrüppel, beziehungsunfähig. Warum er so geworden ist, erschließt sich im Laufe des Romans. Seine Kindheit hat ihn so werden lassen, vor allem sein stets kühler und distanzierter Vater. Der nahm seinen Sohn nie in den Arm. Zärtlichkeiten kamen nicht vor. Nur seine Mutter zeigte dem Sohn, wie sehr sie ihn möchte. Doch sie ist früh verstorben und er vermisst sie bitter. Es fällt Maxwell schwer, sich seine Unfähigkeit einzugestehen, Gefühle auszudrücken. Je deutlicher sie ihm im Verlaufe des Romans wird, desto verzweifelter sucht er nach einer Lösung, nach Erlösung. In seinem Wahn fängt er sogar an, mit seinem Navigator, das heißt dessen Frauenstimme zu reden und bildet sich ein, dass sie ihm antwortet. Das endet übel in einem Whiskeymeer – eine Hommage an den von Coe sehr geschätzten schottischen Romancier Alasdair Gray und dessen Buch '1982, Janine'.

    Jonathan Coe erzählt in der ersten Person. Wir sehen also alles aus Maxwells Blickwinkel. Um jedoch zu erfahren, wie er auf andere wirkt, hat sich der Schriftsteller einen Kunstgriff erlaubt. In die Geschichte von Maxwell eingeschoben finden sich vier Kurzgeschichten, eine peinliche Episode aus seiner Kindheit, erzählt von einer früheren Freundin, ein dramatisches Ereignis aus seinem früheren Eheleben, von seiner Frau in die Form einer Kurzgeschichte gegossen, dann ein Tagebucheintrag seines Vaters, der klar macht, warum der seinen Sohn nie wirklich lieben konnte und eine lange E-Mail, die von dem britischen Segler Donald Crowhurst berichtet, der 1968 eine Weltumseglung vortäuschte und dann vor Scham vor der Entdeckung vermutlich Selbstmord beging. Maxwell sieht in ihm ein Ebenbild seines Vaters.

    Coe: "Wahrscheinlich kennt ihn niemand außerhalb Englands, aber in England ist seine Geschichte gerade in aller Munde. Irgendetwas an ihr scheint die englische Fantasie anzuregen. Es hängt wohl damit zusammen, dass jemandem, der ein Schwindler ist und der Welt ein falsches Bild von sich präsentiert, diese öffentliche Lüge schließlich zum Verderben wird. Aus einer kleinen Täuschung wurde bei Crowhurst durch eine Reihe von Missgeschicken plötzlich ein ganz großer Betrug. Er begriff, dass er bei seiner Rückkehr nach England zwar eine Berühmtheit werden würde, aber eine falsche Berühmtheit und die Größe der Lüge, die er gezwungen wäre sowohl der Welt als das seiner Familie zu erzählen, war mehr, als er ertragen konnte und so brach er darunter zusammen."

    Etwas vorzutäuschen, was man gar nicht darstellt, etwas zu verschweigen, was einem peinlich ist, was man glaubt nicht zugeben zu dürfen, kann schwerwiegende Folgen haben. Maxwell Sims Gefühlskälte jedenfalls ist das Ergebnis einer solchen Selbstverleugnung. Sein Vater hat nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seines Sohnes mit einer Lüge ruiniert, wie man am Ende des Romans zusammen mit Maxwell erfährt. Jonathan Coe erweist sich hier wieder, wenn auch eher indirekt, als Gesellschaftskritiker, so wie man ihn aus früheren Romanen kennt. Sein Roman liest sich zudem als kleine satirische Spitze gegen das allseits beschworene umweltbewusste Leben. Dass er seinen Helden als Vertreter für umweltfreundliche Zahnbürsten aus Holz auf Reisen schickt, kann man wohl nur als ironische Anmerkung zur allgemeinen Unsitte ansehen, selbst die banalsten Ökoideen als Weltrettung zu verkaufen.

    Coe: "Wenn man das als Satire ansieht, dann zielt sie auf den Selbstbetrug der westlichen Gesellschaft, die glaubt, die Umweltprobleme nur halbherzig angehen zu können. Das Produkt, das Maxwell verkauft, ist zwar ökologisch freundlich, er arbeitet aber für ein kapitalistisches Unternehmen, ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen. Mir scheint, wir können diese beiden Dinge nicht wirklich miteinander versöhnen. Wenn wir ernsthaft den Planeten retten wollen, dann müssen wir dieses Kurzfristdenken und das Profitdenken aufgeben. Aber wir sind dazu nicht in der Lage, denn wir sind süchtig danach. Eine der Metaphern dafür im Buch ist dieses Auto, der Toyota Prius, denn ich selbst fahre: ein ziemlich umweltfreundliches Auto, aber auch ein Triumph des Marketing, denn Toyota hat es sehr sexy gemacht. Eine Menge von Hollywood-Stars fahren das Auto und glauben, beides gleichzeitig machen zu können: ein kluges und elegantes Auto zu fahren und gleichzeitig den Planeten zu retten. Das ist aber nicht möglich. Man muss eine Wahl treffen. Aber wir sind im Westen nicht darauf vorbereitet, solch eine Wahl zu treffen. Wir denken, wir können beides haben."

    Bei aller kritischen Grundeinstellung: Jonathan Coe belastet seinen Roman nicht mit offen ausgesprochener Kritik. Sie ist vielmehr eine amüsante Randnotiz für aufmerksame Leser. Unter der Oberfläche der Erlebnisse, von denen Maxwell Sim uns erzählt, steckt mehr als nur die Geschichte eines ungeheuer einsamen Mannes, der sich von seiner Einsamkeit zu befreien versucht. Das führt am Ende des Romans zu einer überraschenden und witzigen Pointe.

    Buchinfos:
    Jonathan Coe: "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim", Übers. Walter Ahlers, DVA München 2010, 409 Seiten, 22,99 Euro