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Victor Gruen
Eindrucksvolles Zeitgeistdokument

Er gilt als der Vater der Konsumtempel: Victor Gruen ersann mit dem Southdale Center die erste Shopping-Mall, die 1956 in Minneapolis eröffnete. Später distanzierte er sich zwar von seiner Erfindung, aufhalten ließ sich der Erfolg jedoch nicht. Für ihn war die Mall mehr Stadt-Ersatz als Kommerzzentrum, wie er in seinen Memoiren "Shopping Town" erklärt.

Von Beatrix Novy | 16.03.2015
    Kunden fahren am 10.12.2014 in Berlin in der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz auf den Rolltreppen.
    Früher ein Highlight, heute vom Aussterben bedroht? Shopping Malls kämpfen ums Überleben. (picture-alliance / dpa-ZB / Jens Kalaene)
    "Ein großer öffentlicher gedeckter Platz mit Oberlichtern, umgeben von einem Ring aus zwei Kaufhäusern und vielen kleineren Geschäften."
    Das kommt einem doch sehr bekannt vor. Damals war es neu: Als 1956 in Edina, Minneapolis, das erste überdachte und dreistöckige Einkaufszentrum eröffnet wurde, ahnte niemand, dass dieser Bautyp der Mall einmal die Welt erobern würde . Dem Erbauer, Victor Gruen, wurde dieser Erfolg zum Dilemma. In späteren Jahren wies er die Vaterschaft für die allzu vielen kaufkraftsaugenden und anti-urbanen Nachkommen seines Southdale-Centers von sich und beklagte sich über die
    "Kurzsichtigkeit jener Unternehmer und Spekulanten, die aus einer ursprünglich städtebaulich begründeten und verantwortungsvollen Tat ein skrupelloses Geschäft gemacht haben."
    Kommerzialisierung des öffentlichen Raums
    Dass Victor Gruen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums nicht anstrebte, dass zumindest seine planerischen Visionen andere waren, darüber ist in den letzten Jahren viel veröffentlicht worden. Eine wichtige Quelle waren seine in der Library of Congress in Washington aufgehobenen Memoiren, die Anette Baldauf, Kulturwissenschaftlerin mit urbanistischem Schwerpunkt, jetzt herausgegeben hat: Es sind, ironischerweise, die Erinnerungen und Ansichten eines überzeugten Europäers, der die Amerikanisierung der Lebensverhältnisse in aller Welt vorantreiben half. Geboren wurde er 1903 als Viktor Grünbaum in der denkbar unamerikanischen Stadt Wien.
    "Welch idealen Lebensstil doch meine Eltern in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der für sie heilen Welt des aufstrebenden Bürgertums führten! Mein Vater, ein hochbegabter, musischer Mann, verstand seine berufliche Tätigkeit als Anwalt mit seiner Liebe für die Künste, besonders für das Theater zu verbinden. Seine Klienten bestanden zum großen Teil aus Freunden und Leuten, die er hoch schätzte."
    Zerbrochene heile Welt
    Darunter Franz Lehár, Emmerich Kálmán, Fritz Kreisler. Diese heile Welt des Viktor Grünbaum zerbrach mit dem Ersten Weltkrieg; der Tod des Vaters beendete auch den Traum vom Architektenberuf, eine Bautechniker-Ausbildung musste genügen. Ein halbes Jahrhundert später versuchten Wiener Kollegen dem in die Heimat zurückgekehrten amerikanischen Staatsbürger und Chef eines global agierenden Architekturbüros aus diesem fehlenden Abschluss einen Strick zu drehen – durchaus symptomatisch für den Umgang mit jüdischen Emigranten in der 'Walzerstadt'.
    Gruen schaffte es, über solchen Gemeinheiten zu stehen: Es fällt auf, dass seinen Memoiren nichts anzumerken ist von der Bitterkeit so vieler Leidensgenossen, die wie er 1938 vor den Nazis hatten flüchten müssen.
    Schon der multitalentierte junge Grünbaum schien über unendliche Reserven zu verfügen, als er sich in den 20er- und 30er-Jahren mit Ladenbau und Inneneinrichtungen durchschlug, sozialistische Politik machte, Artikel und Gedichte schrieb, ein politisches Kabarett aufzog, in dem u.a. Jura Soyfer, Paul Lazarsfeld und Fritz Jahoda mitmischten.
    Kurz: Auch ohne Jude zu sein hätte Grünbaum 1938, nach dem "Anschluss" schnellstens die Ausreise betreiben müssen. Sie gelang ihm und seiner ersten Frau Lizzie Kardos unter anderem, weil ein Theaterfreund sie in SA-Uniform zum Flugplatz fuhr.
    Neustart in New York
    Auch in New York tat Grünbaum, der große Kommunikator, sich leichter als andere. Für einen Herrn Lederer, der zufällig feine Lederwaren verkaufte, sowie für die Pralinen-Firma Altmann und Kühne, heute noch am Wiener Graben ansässig, gestaltete er Läden, deren alteuropäische Eleganz landesweit Begeisterung hervorriefen.
    Weitere Erfolge mit der Neugestaltung von Kaufhäusern brachten Grünbaum - bzw. den mittlerweile amerikanischen Staatsbürger Victor Gruen – und seine zweite Frau, die Designerin Elsie Krummek, an die Westküste. Im Siedlungsbrei von Los Angeles traf ihn mit voller Wucht der Pferdefuß des American Way of Life. Seine Leitmotive fand Gruen dann im Kampf gegen das Auto als "falsch verstandenes Massenverkehrsmittel" und im Planen menschengemäßer Umgebungen.
    Die damit verbundene grundsätzliche Wachstumskritik wurde ironischerweise begleitet vom steten Wachstum des Büros Gruen Associated – was dem Chef durchaus bewusst war.
    Shopping-Center als Stadt-Ersatz
    Auch die Mall dachte er sich ja nicht als beliebig wachsenden, unendlich zu vermehrenden Bautyp. Sondern als Stadt-Ersatz. Schon früh hatten ihn die verödete Innenstadt und die tristen Suburbs von Detroit deprimiert, wo er das Kaufhaus Hudson umplante. Was es herzustellen galt, war quirlige Dichte, waren Marktplatz, Agora oder auch Basar, jedenfalls die historische Einheit von Handel und Urbanität. In den wachsenden Suburbs der amerikanischen Nachkriegsära sollte der moderne Konsumismus zum Kern geplanter Umgebungen mit städtischen Qualitäten werden.
    Ein Einkaufszentrum also nicht nur für den Konsum, sondern mit gestalteten Freiflächen, Vortragssälen, Kindergarten, Post, Arztpraxen, Amtsstuben. Dazu Wege und Kolonnaden, die sich klassisch zu Plätzen und Höfen öffnen. Schon in Gruens erstem Projekt Northland, ein noch offenes Einkaufszentrum, wie es damals gerade Mode wurde, kappte man seine Pläne, vorgesehener Baugrund wurde an private Investoren verkauft.
    Mehr als der Mall-Erfinder
    Natürlich war Gruen nicht nur der Mall-Erfinder. Wo und für wen sein multidisziplinäres und internationales Büro weltweit plante und baute, von Teheran bis Moskau; wie er lernte, dass Planung in einer Diktatur keineswegs glatter läuft als im demokratischen Gemeinwesen; wie die Revitalisierung eines Stadtzentrums hier gelang und dort nicht; wie er half, die Kärntner Straße in Wien zur Fußgängerzone zu machen - das alles erzählt und reflektiert Gruen, flüssig und selbstbewusst. Um dann doch in einem wehmütigen Epilog auf das Lebensthema Mall zurückzukommen:
    Er hatte an ein und demselben Tag erfahren, dass Kalamazoo in Michigan den 20. Jahrestag seiner urbanen Neugestaltung durch Gruen Associates feierte – und dass knapp vor den Toren Kalamazoos ein großes Einkaufszentrum entstehen sollte. Da empfand er die ganze Ambivalenz seiner Pioniertag. Die Mall, die den Suburbs ein städtisches Element zufügen wollte, hatte sich oft genug als Feind der Stadt erwiesen.
    Gelungenes Zeitgeistdokument
    Victor Gruens Erinnerungen: ein sorgfältig editiertes und gut bebildertes Dokument des Zeitgeists im 20. Jahrhundert ebenso wie der Widerständigkeit dagegen. Genial die Idee, zum Schluss die Kinder des berühmten Mannes zu Wort kommen zu lassen: Solche in aller Liebe korrigierenden persönlichen Nachworte würden manchen Erinnerungen selbstgewisser Gatten- und Vaterfiguren nicht schaden.