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Videobeweis
Weit weg vom Ursprungskonzept

Tor oder doch kein Tor? Statt für Klarheit sorgt der Videobeweis für heftige Debatten in der Bundesliga. Es herrscht Konfusion, weil immer wieder ein zentraler Grundsatz der Videobeweis-Idee verletzt wird.

Von Daniel Theweleit | 23.09.2017
    Anzeige des Video Assist beim Spiel VfL Wolfsburg gegen den BVB.
    Anzeige des Video Assist beim Spiel VfL Wolfsburg gegen den BVB. (imago)
    Der Ärger ist groß nach den vielen umstrittenen Entscheidungen, die in den vergangenen Wochen mit Hilfe des Videobeweises getroffen wurden. Eigentlich sollte das Spiel mit der neuen Technologie gerechter werden, und möglicherweise ist das sogar der Fall. Das Problem: Es fühlt sich nicht so an. Das Unbehangen der Anhänger von Borussia Dortmund ging am vorigen Sonntag während des Spiels gegen den 1. FC Köln so weit, dass sie in Richtung Deutscher Fußball-Bund sangen: "Ihr macht unser Spiel kaputt!" Obwohl der Videoassistent ihnen zuvor zu zwei Treffern verholfen hatte. Und der Mainzer Torhüter René Adler sprach vielen Fußballfreunden aus dem Herzen, als er im ZDF-Sportstudio erklärte:
    "Ich habe das jetzt immer noch nicht verstanden, es gibt so viele Ungereimtheiten da einfach, das geht mir jetzt schon auf die Nerven."
    Videoassistenten halten sich nicht an ihr eigenes Konzept
    Skeptiker hatten befürchtet, dass ihnen nach der Einführung des Videobeweises der Diskussionsstoff ausgehen werde. Nun ist das Gegenteil der Fall, es wird mehr diskutiert als je zuvor. Immerhin zeigt sich nach und nach, woran das liegt. Die Videoassistenten im Kölner TV-Studio, die grobe Fehler ihrer Kollegen auf dem Platz korrigieren sollen, halten sich nicht an ihre eigenes Konzept. Immer wieder missachten sie das so genannte Protokoll, das festlegt, wann sie eingreifen dürfen und wann nicht. Der erste Funktionär, der das klar aussprach, war Jörg Schmadtke. Der Manager des 1. FC Köln zeigte sich bei Sky entsetzt nachdem der Videoassistent einen zuvor aberkannten Gegentreffer beim BVB doch für gültig erklärt hatte:
    "Ich plädiere dafür, dass wir uns an das Protokoll halten, das es gibt, und dass hier nicht jeder macht was er will und entscheidet, wie er gerade will. Sondern wir haben ein Protokoll, wo der Schiedsrichterassistent einzugreifen hat und wo nicht. Und in diesem Fall ist das Protokoll nicht befolgt worden."
    Denn eigentlich darf der Videobeweis nur nach ganz klaren Fehlentscheidungen zur Anwendung kommen. Und so eindeutig war der Fehler in dieser Situation nicht. Wie in vielen anderen Fällen auch. Der Fußball und sein Regelwerk sind derart komplex, dass es in jedem Spiel etliche Aktionen gibt, die sich in der Grauzone der Legalität bewegen. Welche Form des Körpereinsatzes ist regelkonform, wann muss auf Foul entschieden werden? Welche Grätsche ist okay, wann ist ein Elfmeter fällig? War die Fußspitze vor einem Treffer schon im Abseits oder doch nicht? Ganz zu schweigen vom Handspiel im Strafraum, das nur abgepfiffen wird, wenn es absichtlich erfolgte. Aber wie lässt sich Absicht nachweisen? Deshalb haben die Regelhüter festgelegt:
    "Bei Grauzonenentscheidungen sollte der Schiedsrichter bei der Entscheidung, die er ursprünglich getroffen hat, bleiben. Das ist der wichtigste Punkt. Die Hilfe soll bei klaren Fehlentscheidungen da sein. Und nicht bei Grauzonen," sagt Lukas Brud, der Sekretär des internationalen Regelgremiums IFAB.
    In der Praxis wird dieser Vorsatz aber nicht eingehalten. Regelmäßig gibt es auch dann Korrekturen, wenn keine ganz und gar unzweifelhafte Fehlentscheidung vorliegt. Es hat sich eine Praxis etabliert, in der die Videoassistenten ihre Kollegen schlicht verbessern, statt sie vor ganz schlimmen Fehlern zu bewahren. In der sie die wahrscheinlich richtigere von zwei möglichen Entscheidungen durchsetzen. Und weil auch das nicht nach durchweg gleichen Maßstäben passiert, ist die Konfusion komplett. Eine neue Instanz der Willkür ist entstanden. Kölns Manager Schmadtke:
    "Wenn wir anfangen, einen Oberschiedsrichter zu installieren, dann glaube ich, wird es insgesamt schwierig. Oder wir ziehen es in einer Tour durch und sagen. Wir haben den Oberschiedsrichter in Köln sitzen, das heißt aber auch, wovor die Schiedsrichter immer Angst hatten: Dass nicht mehr der auf dem Platz das Spiel bestimmt und entscheidet."
    Möglicherweise fällt es den Videoassistenten, die alle erfahrene Bundesligaschiedsrichter sind oder waren, schwer, den tief verankerten Vorsatz, die bestmögliche Entscheidung zu treffen, aufzugeben. Sie müssen aushalten, dass gerade noch vertretbare, aber keinesfalls ideale Urteile bestehen bleiben. Und vermutlich muss auch der eine oder andere seinen Übereifer kontrollieren. Wie weit die Unparteiischen davon entfernt sind, ihr ursprüngliches Konzept durchzusetzen, wird deutlich, wenn man noch einmal dem für das Schiedsrichterwesen zuständigen DFB-Vizepräsidenten zuhört. Ronny Zimmermann zog im Januar eine Zwischenbilanz der damals laufenden Testphase:
    "Also bis zur Winterpause hatten wir 44 solcher als klare Fehlentscheidungen identifizierten Situationen, von denen durch den Videoassistenten 33 hätten aufgeklärt werden können."
    Dauerpräsenz ist Gift für das ganze Projekt
    Damals probierten die Schiedsrichter die Technik im Hintergrund aus und die 33 korrigierbaren Fehler in einer halben Saison, ergaben ziemlich genau zwei Eingriffe pro Spieltag. Jetzt, in der Realität der laufenden Saison, greifen die Assistenten eher zwei mal pro Spiel ein. Eine spektakuläre Diskrepanz. Diese Dauerpräsenz ist Gift für das ganze Projekt. Noch ist die Kehrwende jedoch möglich, sagt der Schalker Manager Christian Heidel.
    "Diesen - in Anführungszeichen - Beruf des Videoassistenten, den gab es vorher nicht. Und ich glaube, jetzt geht es darum, eine einheitliche Regelung zu finden, wann sie eingreifen, wann sie nicht eingreifen sollen. Und dann glaube ich, wird das eine relativ gute Sache werden."
    So zuversichtlich sind längst nicht mehr alle, die die Technik noch vor wenigen Wochen mit großem Wohlwollen betrachtet haben.