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Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus

"Videophilosophie" ist ein Versuch. Es ist der Versuch, verschiedene Theorie- Fragmente zu einem Denkmodell zusammenzufügen, dass sich selbst wiederum als Fragment einer politischen Theorie lesen lässt. Politische Theorie allerdings nicht verstanden als Entwurf einer umfassenden Analyse und alternativen Strategie, sondern als Öffnung eines Feldes von Reflektionen und Diskussionen, die bestimmte Fäden linker Theoriebildung, die seit den frühen achtziger Jahren brach liegen, wieder aufnimmt und neu verwebt.

Barbara Büscher | 17.07.2002
    Maurizio Lazzarato verbindet dabei grundlegende Beobachtungen zur Entwicklung "immaterieller Arbeit" und zu ökonomischen und sozialen Verschiebungen, die mit der Ausbreitung der "Informationsökonomie" hervortreten, mit medientheoretischen Überlegungen. Hier bezieht er seine argumentative Basis aus einer Bergson-Lektüre, die Deleuze/Guattaris 1000 Plateaus durchlaufen hat und auch in diesem Sinne an Gilles Deleuze' Kino-Buch anknüpft. Ergänzt wird das - wie es übrigens schon Deleuze in Kino 2 mit dem Titel "Das Zeit-Bild" macht - durch eine Re-Lektüre von Dsiga Vertovs Schriften zum Film ebenso wie durch die Wiederaufnahme bestimmter Denkfiguren Walter Benjamins.

    Marx sah im Verhältnis von Zeit und Subjektivität den Schlüssel zur Lösung des Rätsels von Arbeit und Ware - in Form einer ‚Kristallisation von Zeit'. Kino, Video und digitale Technologien führen heute eine andere Form der Zeitkristallisation ein, einen neuen Maschinentypus, der im Gegensatz zu den mechanischen und thermodyamischen Maschinen nicht Zeit allgemein kristallisiert, sondern die Dauer der Wahrnehmung, der Sensibilität und des Denkens. (...) Es muss analysiert werden, in welcher Weise die affektiven Kräfte und die Produktion der Subjektivität heute im Zentrum des Prozesses der kapitalistischen Wertschöpfung stehen.

    Dieses Zitat markiert einerseits einen konstitutiven Aspekt des Begriffs ‚immaterielle Arbeit': nicht mehr allein die Arbeitszeit oder die Arbeitskraft sind der kapitalistischen Wertschöpfung unterworfen, sondern die ganze Person und ihre Lebenszeit. Es zeigt ebenso die theoretische Schnittstelle auf, an der Lazzarato gesellschaftliche und mediale Transformationen verbindet. Er beschreibt die technischen Medien mit Bergson und Guattari als "Zeitkristallisationsmaschinen", deren wesentliche Arbeit nicht in der Repräsentation von Wirklichkeit(en) besteht, sondern darin, Zeit zu kontrahieren und zu kondensieren. Sie imitieren damit im Sinne Bergsons Wahrnehmung und Gedächtnis als ‚intellektuelle Arbeit":

    Auf die Arbeiten Bergsons bezogen will ich zeigen, wie Wahrnehmung, Empfindung und Gedächtnis ‚Produkte' der Fähigkeit sind, Zeit zu kontrahieren und zu dehnen, und dass die Subjektivität sich wesentlich im Inneren der Schaltung aktuell/Virtuell konstituiert. Diese ahumane Produktion des Humanen als Synthese der Zeit bildet die Basis der elektronischen und digitalen Technologien. Diese These lässt sich an den Arbeiten früher Künstler gut entwickeln. Nam June Paik sagt ohne Zögern, dass "Video Zeit ist".

    Erst mit den digitalen Technologien tritt deutlich hervor, was auch für Video und Fernsehen als technische Basis gilt: nicht mehr wird - wie im Film - das Einzelbild in Montage erst in Bewegung gesetzt, sondern das Bild entsteht - wie es heißt - "aus der Schwingung der Materie selbst, aus der Modulation von Strömen". Das greift zurück auf die materialen Eigenheiten der Bild'produktion' und -bearbeitung durch elektronische und digitale Medien. Nicht mehr das Bild als optische Repräsentation ist deren Grundlage. In Video erzeugt ein Kathodenstrahl durch die Abtastung eines Rasters von Punkten eines von vielen möglichen Bildern. In der Matrix der Pixel, die durch Rechneroperationen des Computers gesteuert werden, wird diese Anordnung weitergetrieben. Durch sie wird die Vorführung nicht- chronologischer Zeitlichkeit möglich. Oder wie es Lazzarato formuliert: es entsteht "eine Simulation von differenten, immer erneuerbaren, aktualisierbaren Augenblicken".

    Diese Sichtweise verschiebt das Verständnis sowohl des Bildbegriffs wie auch des Begriffs "virtuell". Das Bild wird von einer optischen Repräsentation zu einer zeitlichen Manifestation, in der das Ereignishafte, der Prozess, der Zugang zu den Bewegungen des Repräsentierens zentral wird. Die neuen Technologien gewinnen in diesem Modell ihr besonderes und innovatives Potential aus der Nähe zu den Produktionsweisen von Subjektivität.

    Das Virtuelle wird als Handlungsvermögen und -möglichkeit beschrieben, die die Idee einer computergesteuerter Interaktivität überschreitet. In welchem Prozess und in welcher Form dieses Vermögen sich zur Handlungsfähigkeit verdichten kann oder wird, bleibt allerdings offen. Der Rekurs auf Vertov erinnert daran, wie in einer historischen Konstellation von medialen und sozialen Veränderungen das Kino einen Aneignungsprozess neuer Wahrnehmungsweisen in Gang setzen sollte. Die im Text wiederholten Bezüge auf Äußerungen Nam June Paiks oder Bill Violas stellen eine Verbindung allein auf der Ebene allgemeiner Merkmale von Video her. Da wünscht sich die interessierte Leserin dann, dass auf der Basis eines solchen Denkmodells ästhetische Praktiken von Video und digitalen Technologien, sei es als Kunst oder als Aktivismus, diskutiert würden. Und erwartet in diesem Sinne: Fortsetzung folgt.