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Viel Straßenbau, wenig politischer Wandel?

Istanbul, eine der Kulturhauptstädte Europas 2010, ist eine Stadt mit vielen, widersprüchlichen Gesichtern. Sie ist die Stadt des neuen Geldes, der Trendsetter und global reisenden Power-Shopper, aber auch die Stadt der Schwermut, des Untergangs und der Heimatlosen.

Von Brigitte Neumann | 02.01.2010
    "Als ich hierher kam, war ich begeistert, euphorisch. Erstens von der Schönheit dieser Stadt, aber auch von dem politischen Treiben. Auch von den Zeitungen. Unglaublich, so bunt. In Peking waren die Zeitungen auch bunt, aber wenn man genauer hinschaute, merkte man, dass in jeder Zeitung haargenau das Gleiche stand. Hier schrieben die Zeitungen mit einem Mal total verschiedene Sachen. Wenn jetzt der Berliner Parlamentarier auf seine Kollegen in Ankara schaut und er sieht über dem Parlament Rauchwolken aufsteigen, weil die sich so prügeln oder so, dann schaut er da eher besorgt drauf. Wenn ich da drauf sehe, ja Wahnsinn, die prügeln sich, super. Da tut sich was. Ich hatte wirklich das Gefühl, ganz im Ernst, dass ich hier teilhaben kann, am Fortschreiten der Zivilisation. Weil dieses Land sich bewegt in Richtung Demokratisierung."

    Kai Strittmatter hat vor seiner Station in Istanbul acht Jahre lang aus Peking für die Süddeutsche Zeitung berichtet. China hält er für politisch völlig erstarrt - anders als die Türkei. Und einen großen Anteil an der Lebendigkeit der öffentlichen Diskussion hätten die Künstler, vor allem, meint der 44-Jährige, die Schriftsteller. Orhan Pamuk, Perihan Magden und Elif Shafak, die es gewagt haben von einem Völkermord der Türken an den Armeniern zu sprechen, dafür erstens vor Gericht kamen, zweitens freigesprochen wurden, aber sich drittens seither mit politischen Äußerungen sehr zurückhalten.

    "Sie haben schon recht, drittens hat Elif Shafak inzwischen so viel Angst, dass sie keinen Pips mehr von sich gibt. Sie spricht tatsächlich nur noch über Sufi-Philosophie. Das ist chic und harmlos und vermeidet alles Politische. Sie ist nicht die Einzige, die Angst hat. Orhan Pamuk hat ja jahrelang nix mehr gesagt nach den Morddrohungen gegen ihn."

    Orhan Pamuks "Museum der Unschuld", das im Mai in Istanbul eröffnet wird, ist eines der wenigen Projekte, dessen Finanzierung im Rahmen der Kulturhauptstadtaktivitäten von vornherein feststand. Was auch ein Zeichen dafür ist, dass die türkische Politik mit Orhan Pamuk längst ihren Frieden gemacht hat. Es ist der Justizapparat, der jede Reform, jede Kritik immer noch auszuhebeln versucht. Und auch vor den imageschädigenden Anklagen gegen einen Literaturnobelpreisträger nicht zurückschreckt. Aktuell läuft eine Schadensersatzklage gegen Pamuk vor dem Kassationsgericht in Ankara. Wieder geht es um seinen Vorwurf des armenischen Völkermords, einen Satz, den Pamuk 2005 einem Schweizer Magazin gesagt hatte.

    Die aktuelle türkische Kultur profitiert von diesen Spannungen, Auseinandersetzungen und den weiterhin herrschenden Tabus in der türkischen Gesellschaft, sowie davon, dass es nicht mehr lebensgefährlich ist, sie zu thematisieren. Kai Strittmatter:

    "Zum Beispiel hat einer der türkischen Künstler einfach ein Minarett flachgelegt und so aufgebaut, als sei es eine Rakete auf einer Abschussrampe. Oder ein anderer Künstler hat auch - höchst subversiv - einer dieser Sprüche, der den Türken eingebläut wird, seit sie Kinder sind : 'Glücklich ein jeder, der sich Türke nennen darf.' Dieser Spruch steht bezeichnenderweise vor allen Dingen im Südosten der Türkei an den Berghängen riesengroß mit Steinen gelegt, sodass es jeder sieht. Wenn man unten in der Stadt lebt, und dann im Hintergrund der Berg ganz groß über der kurdischen Stadt.. Und dieser Künstler, der hatte so Spruchbänder da aufgehängt: 'Wie glücklich, ein jeder, der sich Armenier nennt.'"

    Das war auf der letzten Istanbul-Biennale. Viele ähnlich provokante Projekte haben junge Istanbuler Künstler bei der Agentur für die Ausrichtung des Kulturhauptstadtjahres eingereicht. Von 1990 Vorschlägen wurden 300 bewilligt. Nicht darunter: Nermin Mollaoglus Antrag auf finanzielle Unterstützung für ihr Tanpinar Literaturfestival in Istanbul. Die Agentur erlaubte ihr aber großzügig, das Kulturhauptstadtlogo zu verwenden.

    Inzwischen kommen die Vorbereitungen zum Kulturhauptstadtjahr Istanbul an ein Ende. Als ihre wichtigsten Projekte bezeichnete die Agentur die Ausgrabungen eines Sultanspalastes, das Konzert der Popgruppe U2, einen Religionsgipfel, einen Ballettwettbewerb und Pamuks "Museum der Unschuld". Istanbul solle eine internationale Marke für gehobene Kultur werden, hieß es Mitte des Monats auf einer hochkarätig besetzten Pressekonferenz in Istanbul. Schließlich sei bekannt, dass Kulturtouristen dreimal so viel Geld ausgeben wie der Durchschnittsurlauber.

    Hört sich an, als habe das Tourismusministerium inzwischen das Programm fürs Kulturhauptstadtjahr Istanbul 2010 gekapert.


    Literatur

    Kai Strittmatters Bücher über Istanbul:

    Gebrauchsanweisung für Istanbul
    Piper Verlag
    Erscheint am 9. März

    Bereits erschienen:
    Im Knesebeck Verlag
    Kai Strittmatter
    Istanbul - Metropole zwischen den Welten
    Mit vielen Farbfotos von Reto Guntli