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Viel Wollen, wenig Können

Schon für Goethe und Schiller war der Dilettantismus die verbreitete "Fertigkeit ohne poetischen Geist". Er hat überdauert – und ist munter dabei, uns alle zugrunde zu richten, behauptet der Essayist Thomas Rietzschel und erläutert, warum die intellektuelle Verödung nicht mehr aufzuhalten ist.

Von Peter Carstens | 27.02.2012
    "Die Dilettanten sind die Heroen unserer Tage, die Helden einer leistungsmüden Gesellschaft. Der anmaßende Dilettant ist der moderne Mensch par excellence, ein Bürger, der sich selbst vormacht, was andere von ihm halten sollen. Er ist, was er zu sein verlangt, nicht, was er sein kann, gleich ob er nun als Außenminister durch die Welt gockelt, diamantbesetzte Schädel als Kunst verkauft, oder als Banker verzockt, was ihm nicht gehört. In welcher Verkleidung wir ihm begegnet sind, stets hat der beruflich agierende Dilettant erfolgreich versagt."

    Wenn Politiker, Künstler und Finanzjongleure mit der Illusion eigener Bedeutung über die Realitäten ihres Versagens triumphieren, kann der Essayist dazu nicht schweigen. Thomas Rietzschel, der aus dem tief gebildeten Dresden stammt und lange Zeit für das Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gearbeitet hat, stemmt sich mit seinem Buch "Die Stunde der Dilettanten" grimmig dagegen.

    Mögen die anderen sich verschaukeln lassen, Rietzschel macht nicht mit: In sechs Kapiteln seines Buches untersucht er jeweils ein Feld öffentlichen Lebens: Die Politik, die Wirtschaft, Kunst, Bildung und die Unterhaltungsindustrie. Sein Fazit: Viel Wollen und nur noch wenig Können. Politische Imitatoren wie Karl-Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff, der britische Künstler Damian Hirst und Moderator Thomas Gottschalk aber auch die Euro-Retterin-Angela Merkel - er ist ihnen allesamt auf die Schliche gekommen. Hier agieren Leute, die, so der Autor:

    "Als professionelle Dilettanten nicht wider besseres Wissen handeln, sondern schlicht ahnungslos, aber durchdrungen von der Bedeutung der Rolle, die sie verkörpern. In ihr leben sie wie der Mime auf der Bühne."

    "Learning by doing" heißt deren Devise, oder: "Jeder Mensch ist ein Künstler". Rietzschel hat da so seine Bedenken. Natürlich weiß er auch von wunderbaren Dilettanten zu berichten, allen voran Goethe, den Entdecker des Zwischenkieferknochenes, oder den Mecklenburgischen Handlungsgehilfen Heinrich Schliemann, der den Schatz des Priamos hob. Rietzschel erwägt sogar, Helmut Kohl dieser Gesellschaft zuzuordnen, der zunächst als fachkundiger Historiker die Deutsche Einheit erreichte, dann aber als praktizierender Dilettant auch noch die Europäische Einigung und den Euro anpackte. Gegen den Rat aller Experten. Rietzschel meint, mit ihrer fachlichen Unbefangenheit können Dilettanten gerade auf der weltpolitischen Bühne manches zuwege bringen. Man muss aber auch sehen, so der nachdenkliche Autor:

    "Dass sie mit der Einführung des Euro politische Ziele verfolgten, von deren volks- und finanzwirtschaftlichen Auswirkungen sie sich keinen Begriff machten."

    Für Rietzschel hat es sich gezeigt,

    "dass der Dilettant, wo er kreativ sein will, auch mal Vabanque spielen muss".

    Andere müssen dann später eventuell teuer dafür bezahlen. Davon könnte auch die Kuh ein Lied singen, die vor etwa einhundert Jahren den Begründern des modernen Dilettantismus zum Opfer fiel. Denn, wie Rietzschel in seinem Einführungskapitel ausführlich beschreibt, kommen die Ursprünge dieser Weltanschauung nicht von ungefähr, sondern aus der Schweiz. Genau genommen, aus Ascona. An den Lago Maggiore zogen Anfang des letzten Jahrhunderts zivilisationsmüde Künstler, Nudisten und Anarchisten auf den "Monte Verità", den Berg der Wahrheit. Sie kauften einige unfruchtbare Grundstücke in Hanglage und begannen eine ökologisch-künstlerische Landwirtschaft. Am Monte Verità hofften sie, so Rietzschel,

    "ihr Glück zu finden, indem sie die Vorstellung von der Wirklichkeit, die Utopie, die erträumte Realität ernster nahmen als die Wirklichkeit selbst. Jedermann sollte so anerkannt werden, wie er sich selbst sehen wollte, so emotional, so genial so künstlerisch begabt. Das Individuum wurde der Gesellschaft enthoben, die Kunst der Kritik."

    Dem entsprechend dürftig waren die Ergebnisse, wie Rietzschel feststellt und tatsächlich sind die meisten der Monte-Künstler zu Recht vergessen. Und weil die Naturkostler der Meinung waren, Salz sei Teufelszeug, nahmen sie es auch der Milchkuh weg, die sie angeschafft hatten. Das Tier, so wird berichtet, habe in seiner Not einen Eimer Schmierseife statt des Salzes geleckt und sei daran qualvoll verendet. Rietzschel schreibt betrübt:

    "Wo das Wollen mehr gelten sollte, als das Können, wurde die Beherrschung der Sache nebensächlich. Die Stunde der Dilettanten hatte geschlagen."

    Mit dieser Geschichte erklärt Thomas Rietzschel dem Leser im Grunde alles Weitere, die "Narzissmus-Epedemie" in Politik und Wirtschaft, die Bildungsverwahrlosung, die Odenwaldschule, das Elend einer Kultur, die Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit nur noch so definiert: "Kultur ist für mich, wenn die Kinder auf der Bühne stehen und die Mütter die Kostüme nähen."

    Nein, widerspricht der Journalist, eine Anhäufung des Beliebigen ist noch keine Kultur, allenfalls Kitsch und Kolportage. Aber er weiß wohl, dass er gegen die Wowereits nicht ankommt und auch nicht gegen ZDF-Zuschauer, die bei der Wahl der "besten Musiker aller Zeiten" Herbert Grönemeyer auf den ersten Platz wählten, gefolgt von Udo Jürgens. Auf Platz drei: Wolfgang Amadeus Mozart. Immerhin möchte man als Optimist sagen. Doch Rietzschel neigt nicht zur Zuversicht.

    "Der Dilettantismus ist endgültig zur Weltanschauung einer Pop-Kultur geworden, in der jedermann, wenn er nur will, eine Chance bekommt, mit Erfolg zu versagen."

    Als Beobachter will Rietzschel das beschreiben, Hoffnung machen kann er nicht, wenn er meint:

    "Nur als Dilettanten können wir mit der technisch forcierten Entwicklung unserer Tage noch halbwegs Schritt halten. Die Komplexität der Welt lässt uns gar keine andere Wahl. Wer alles verstehen wollte müsste an sich selbst verzweifeln. Der Fortschritt selbst nimmt uns die Zeit der Erkenntnis; und wenn wir sie noch hätten, ginge es uns vermutlich sehr viel schlechter, als wir es zu behaupten gewöhnt sind."

    Sein kluges, manchmal aber auch etwas altkluges Buch beschreibt öffentliche Zustände und Personen, die der Autor und vermutlich viele andere als Bürger, Zuschauer oder Leser täglich erdulden. Rietzschel hat fleißig Banalitäten und Peinlichkeiten gesammelt, die als Einzelne weder tragisch noch neu sind. Begleitet von melancholisch-satirischen Kommentaren fügt er aber seine Puzzelsteinchen zu einem Deutschland-Bild, das einigermaßen erschüttert. Wer aber Rietzschels an- und streckenweise aufregenden Essay zur Hand nimmt, demonstriert schon damit fröhlichen Trotz gegen seinen Pessimismus - und natürlich gegen den grassierenden Dilettantismus.

    Thomas Rietzschel: "Die Stunde der Dilettanten. Wie wir uns verschaukeln lassen
    Zsolnay Verlag, 256 Seiten, 17,90 Euro
    ISBN: 978-3-552-05554-4