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"Vieles kann ohne Politiker gemacht werden"

Gewöhnliche Menschen, die ihr Bestes geben, können die Probleme einer Stadt genauso lösen wie Berufspolitiker, findet Jón Gnarr, Bürgermeister der isländischen Hauptstadt Reykjavík. Seit dem Sieg bei den Kommunalwahlen änderten er und seine Freunde von der "Besten Partei" die Methode, wie Politik gemacht wird.

Jón Gnarr im Gespräch mit Jessica Sturmberg | 11.10.2011
    Jessica Sturmberg: Jón Gnarr, ich habe den Eindruck, dass Sie inzwischen so etwas wie ein politischer Popstar in Europa geworden sind, weil es recht einzigartig ist, dass ein Komiker zum Bürgermeister gewählt wird. Wie sehen Sie das selbst?

    Jón Gnarr: Ich sehe mich selbst als Beispiel dafür, dass es möglich ist, die politische Bühne zu betreten als jemand, der kein professioneller Politiker ist.

    Jessica Sturmberg: Ist es für Sie ein Beweis dafür, dass normale Menschen wie Sie und ihre Freunde, die fast alle Künstler sind, genauso eine große Stadt wie Reykjavík regieren können, eine Hauptstadt?

    Jón Gnarr: Ja, definitiv. Und dass Politik überbewertet wird. Ich glaube sogar, dass in vielen Fällen Politik mehr Schaden anrichtet, als dass sie Gutes tut. Vieles kann ohne Politiker gemacht werden. Einfach von gewöhnlichen Menschen, die ihr Bestes geben, um Probleme zu lösen.

    Jessica Sturmberg: Haben Sie Probleme gelöst?

    Jón Gnarr: Ja! Ich habe eine Menge Probleme gelöst. Die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Stadt wird besser, wir haben sehr komplizierte Angelegenheiten gelöst. Zum Beispiel die Schieflage beim städtischen Energieunternehmen, die bedrohlich war. Also ja.

    Jessica Sturmberg: Beseitigen Sie jetzt den Schaden, den, wie Sie sagen, die alteingesessenen Politiker hinterlassen haben?

    Jón Gnarr: Ich weiß nicht, ob wir hinter den Politikern aufräumen. Aber wir ändern in jedem Fall die Methode, wie Politik gemacht wird.

    Jessica Sturmberg: Können Sie dafür ein Beispiel geben?

    Jón Gnarr: Die alte Methode betrifft die Vorstellung eines Anführers. Wenn man nur ein gutes Staatsoberhaupt hat, ist alles in Ordnung. Aber so ist es nicht. Es ist egal, wie gut das Staatsoberhaupt ist. Es bleibt ohnehin alles gleich. Die Zeit der Helden ist vorbei. Auch diese Irreführung durch eine Ideologie. Nur, wenn man die richtige Weltanschauung hat, wird alles gut. Das ist auch Unsinn. Wir hatten alle möglichen Ideologien und keine davon ist perfekt. Keine ist besser oder schlechter als die andere. Ich glaube auch nicht, dass Parteien oder politische Bewegungen einen so großen Einfluss haben. Ich glaube, sie haben viel weniger Einfluss als das Kapital. Ich denke, der Kapitalismus kontrolliert viel mehr, als wir normale Menschen glauben. Wir denken, dass die Politiker die Macht haben, aber sie haben gar nicht die Macht. Und da kommen wir ins Spiel - ohne Ideologie, weder links, noch rechts, oder mittig. Wir sind Anarcho-Surrealisten. Und keiner weiß, was das ist. Ich auch nicht.

    Jessica Sturmberg: Verändern Sie als regierender Künstler die Politik oder ändert Politik die Künstler?

    Jón Gnarr: Ich denke, ein bisschen von beidem. Wir verändern definitiv die Politik, aber ich kann nicht sagen in welchem Umfang. Und natürlich hat der Politikbetrieb auch Auswirkungen auf mich. Bevor ich damit anfing, hatte ich so gut wie keine Ahnung, und je mehr man erfährt, umso auswegloser scheint alles zu sein. Deshalb ist Unwissenheit auch ein Stück Glückseligkeit. Und ich war unwissend und arglos. Aber das ist jetzt weg, insoweit hat es mich verändert.

    Jessica Sturmberg: Wie können Sie dann weitermachen? Wohin führt das für die "Beste Partei" und Sie selbst?

    Jón Gnarr: Ich würde gerne, dass daraus etwas ganz Neues entsteht. Etwas Wunderschönes, Außergewöhnliches, Großartiges. Ich weiß nur noch nicht, was es genau ist. Etwas ... Gutes. Und ich weiß auch noch nicht, ob ich Teil davon sein werde oder dann etwas anderes mache.

    Jessica Sturmberg: Jón Gnarr - Sie waren auch einmal Sänger, und in der Musik gibt es den Ausdruck "One-Hit-Wonder”. Ihre politischen Konkurrenten auf Island, allen voran die konservative Unabhängigkeitspartei, hoffen, dass sie nur aufgrund der Krise und der enttäuschten Menschen in das Amt gewählt wurden. Sind Sie ein "One-Hit-Wonder”?

    Jón Gnarr: Es ist eine Taktik von mir und von uns, dass wir uns als simple Spaßvögel dargestellt haben. Was wir aber nicht sind. Wir sind eine Gruppe sehr talentierter und gescheiter Leute und keineswegs dumm. Es war uns durchaus recht, dass unsere Gegner versucht haben, uns als populistisches "One-Hit-Wonder” abzustempeln und ich nur Bürgermeister für vielleicht zwei Monate wäre, und dann einen Herzinfarkt bekomme. Oder das ganze nur Show ist und ich nach kurzer Zeit zurücktrete oder so, aber das tun wir alle nicht. Keiner der Gewählten aus der "Besten Partei". Wir sind sechs Ratsmitglieder und niemand ist bisher gegangen, keiner wird gehen, keiner beabsichtigt zu gehen. Jeder nimmt seinen Job absolut ernst und die Leute realisieren immer mehr, dass wir real sind.

    Jessica Sturmberg: Was ist Ihre Rolle?

    Jón Gnarr: Meine Rolle ist die, Menschen zu inspirieren, dahin gehend, dass sie an ihre eigene Kreativität glauben, an Dienstleistung, die Kraft, etwas Gutes für andere zu tun und die Fähigkeit zu einer verständlichen Kommunikation. Es geht vor allem darum Menschen zu sensibilisieren, für Werte wie Schönheit und Zufriedenheit. Weil das am meisten zählt.

    Jessica Sturmberg: Ich höre jetzt schon viele sagen, das ist naiv.

    Jón Gnarr: Ja, genau! Und ich mag es naiv zu sein. Ich wünschte noch mehr Menschen würden gerne naiv sein. Meistens sind das die heitersten Menschen. All die guten Dinge werden immer als naiv angesehen und das ist vielleicht einer der Gründe, warum Menschen Angst haben, Teil von etwas Gutem zu sein. Weil sie nicht als naiv angesehen werden möchten. Wie bei der Antikriegs-Bewegung. Da wirst Du schnell als naiv abgestempelt.

    Jessica Sturmberg: Die Menschen vertrauen Ihnen. Sie haben Sie gewählt, weil sie Ihnen vertrauen. Welche Rolle spielt Humor dabei?

    Jón Gnarr: Ich bin in Island eine prominente Person, und ich bin liebenswürdig, sehr einfach, ehrlich und respektvoll. Zu meiner Philosophie gehört es, im Leben mehr Müll aufzuheben als zu hinterlassen. Ich versuche mit meiner Arbeit Gutes zu tun, die Menschen wissen das. Und auch der Humor und die Naivität, ich versuche mich nicht allzu ernst zu nehmen. Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, wenn Sie mir zum Beispiel all diese Fragen stellen, dass ich eigentlich gar nicht so viel weiß. Und ich fange an, darüber nachzudenken, dass ich das alles wissen sollte. Aber dann versuche ich mich wieder daran zu erinnern, dass ich einfach da bin, hier in diesem Amt, Bürgermeister von Reykjavík - ohne zu wissen, was das bedeutet. Das ist doch mehr als genug.

    Jessica Sturmberg: Vielen Dank!