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Vielfalt im Süden

Die Opernfestspiele von Aix-en-Provence präsentieren in diesem Jahr trotz Doppeljubiläum nicht nur Verdi und auch nicht nur Wagner. Vielmehr erweist sich Aix mit einem weit gefächerten Spektrum einmal mehr als Europas wirkungsmächtigstes Opernfestival.

Von Frieder Reininghaus | 11.07.2013
    Wie die Festspiele in Salzburg und in Glyndebourne wurde das sommerliche Festival in Aix-en-Provence vor Jahrzehnten wesentlich zum Zweck der Mozart-Pflege ins Leben gerufen: Mozart, fein instrumentiert, sollte als Bindeglied des "Europäischen" glänzen und dienen. Heuer kam in der Provence zwar keine Mozart-Neuproduktion zum Vorschein, aber immerhin die mit Spannung erwartete Überarbeitung des vor drei Jahren von Dmitri Tcherniakov inszenierten "Don Giovanni". Die Neueinstudierung mit einem weitgehend neuen, aber insgesamt nicht so leistungsstarken Sänger-Team hob die Aspekte der Langeweile in der Welt der russischen Neureichen, die sichtbaren Folgen des Drogen- und Alkoholmissbrauchs sowie das Verenden des "dissoluto" an Lebens- und Welt-Ekel noch stärker hervor. Doch das war nicht unbedingt ein Zugewinn.

    Auch nicht, dass das vor drei Jahren als informeller historischer Informant mit Louis Langrée aufgebotene Freiburger Barockorchester nun durch das London Symphony Orchestra ersetzt wurde, das unter Marc Minkowski in Karl-Böhm-Tradition aufspielte. Durch die Académie européenne de musique wird in der Provence Sänger-, Regisseurs- und Komponisten-Nachwuchs herangezogen, der das Musiktheaterhandwerk gründlich erproben kann (aber eben auch in geordnete Bahnen gelenkt wird). Das wurde beim Ausflug zu den Anfängen der Operngeschichte deutlich.

    Francesco Cavallis "Elena" von 1659 – hier Emöke Baráth in der Titelpartie – wurde von Leonardo García Alarcon nach den Quellen und den derzeitigen Konventionen der historischen Aufführungspraxis aufbereitet für ein profund generalbasslastiges Ensemble (den Continuoinstrumenten – drei Cembali, einem Orgelpositiv sowie fünf Vertreterinnen der Lauten- und Gambenfamilien sitzen nur zwei Violinistinnen und zwei Blockflötenspieler gegenüber). Die szenische Realisierung des Plots, der einen der antiken Berichte über die Jugend der nachmals noch einmal entführten schönen Helena mit dem Theseus-Sagenkreis kompilierte, wurde vom Regie-Quereinsteiger Jean-Yves Ruf allzu interlinear und brav inszeniert.

    Ästhetisch verhalten wirkte auch die Uraufführung der auf einer lateinamerikanischen Novelle basierenden Kammeroper "The House taken over" des jungen portugiesischen Komponisten Vasco Mendonça. Da geht es um zwei abgeschottet von der übrigen Welt im Elternhaus lebende, zunehmend verängstigte Geschwister – um so etwas wie Familienanamnese: Angesichts von etwas Spuk im Haus ziehen sie sich aus einem Zimmer nach dem anderen zurück. Am Ende ist es im kleinen Flur vor der Haustüre nicht mehr auszuhalten. Mit der eskalierenden Beunruhigung der beiden Protagonisten und der Einschränkung ihres Lebensraums bietet die Partitur von Mendonça Räume für mancherlei Stimmungen und stimmtechnische Facetten. Hörbar zum Beispiel beim finalen Aufbruch des Geschwisterpaars in ein neues Leben. Sanft-beschauliche neue Kammer(opern)Musik, die neurotische Verängstigung und inzestuösen Schrecken diskret illuminiert.

    Den Schlusspunkt der Opernpremieren setzten Esa-Pekka Salonen und Patrice Chéreau mit der "Elektra" von Richard Strauss: Imposant, wuchtig – und mit stärkeren Spuren der Anstrengung wurde die Intensität des Rachebedürfnisses im Kontext der ziemlich teutonischen Musik vorgeführt. Richard Peduzzi entwarf für Chéreau einen hermetischen Hof in zeitloser Herrschaftsarchitektur und der Regisseur ließ seine Protagonisten agieren, als gälte es, einen expressionistischen Stummfilm nachzuerzählen. Evelyn Herlitzius triumphiert in der Titelpartie mit hysterischem Potential, wilden Gesten und Tänzen; Waltraud Meier profiliert sich als distinguierte mörderische Mutter Klytämnestra. Der szenisch-musikalische Überwältigungsversuch wurde mit Ovationen honoriert. Aix ist derzeit das nachhaltig wirksamste Opernfestival Europas: 18 Theater quer durch Europa übernehmen von hier Produktionen.