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Vier Generationen jüdisches Leben in Russland

Im Vorwort zu ihrem ersten autobiographischen Roman "Melonenschale" schreibt Rada Biller, dass sie sich beim Schreiben mit ihren Reflexionen, Erinnerungen, Gefühlen wie ein "wimmelnder Ameisenhaufen" fühle. Ja, sie hat unendlich viel zu erzählen, und der Erfahrungsschatz ihres langen, reichen, bunten Lebens scheint unerschöpflich. Er bietet auch den Stoff für ihren zweiten Roman.

Von Karla Hielscher | 20.09.2007
    "Lina und die anderen" ist die bewegte Geschichte einer jüdischen Großfamilie über vier Generationen. Das beginnt mit dem Leben des Großvaters, des Uhrmachers Mendel, der im russisch-ossetischen Wladikawkas am Fuße des Kaukasus Ende des 19. Jahrhunderts seine winzige Werkstatt aufmacht und sich aus einem polnischen Schtetl an der russischen Grenze sein Frau Rachel holt. Nach dem Tod Mendels sucht die Familie ihr Glück in der boomenden Erdölstadt Baku, wo die Enkel, darunter die Titelgestalt Lina und ihre Cousine Dara geboren werden. Deren verwickelte Lebensgeschichten samt denen ihrer zahlreichen Ehemänner, Kinder und angeheirateten Verwandten stehen im Zentrum der Erzählung, die die Zeit von den 30er Jahren der Sowjetepoche bis in die Gegenwart umfasst. Es ist das Schicksal der schönen, leidenschaftlichen schwarzäugigen Lina, die von ihren Eltern verwöhnt wurde "wie nur ein Kind einer sehr armen jüdischen Familie verwöhnt sein kann", und ihrer jüngeren, von ihr tief geliebten Cousine Dara, die ihr mit ihrer anerzogenen Auffassung von Pflicht und Verantwortung ihr Leben lang immer wieder unter die Arme greift.

    Die Autorin erzählt ihr von Personen und Orten überquellendes Material aus allwissender Erzählerposition in lockerer, ungekünstelter, knapper Sprache, soweit möglich chronologisch. Dazwischengeblendete Briefe geben einen Einblick in die Innenperspektive der Hauptpersonen. Und obwohl die 18 Kapitel mit den Namen ihrer Protagonisten überschrieben sind oder auch im Titel gesagt wird, ob es sich um die erste, die zweite oder dritte Ehe von Lina oder ihrer Tochter Alla handelt, verliert der Leser schnell den Überblick über die Unzahl von Figuren und die vielen lose verbundenen, immer wieder abgerissenen Handlungsfäden. Und natürlich können die oft nur mit ein paar Sätzen umrissenen Gestalten von Familienmitgliedern oder Verwandten in dieser Kürze kein eigenständiges Profil gewinnen. So entsteht beim Leser leider tatsächlich der Eindruck eines wimmelnden Ameisenhaufens.

    Erstaunlicherweise hat das Buch trotzdem einen großen Reiz.

    Im Hintergrund des Privatlebens der verzweigten Großfamilie entfaltet sich nämlich das Bild einer ganzen historischen Epoche: das bedrückend enge Wohnen in den sowjetischen Kommunalkas, die "reiche Armut der Intelligenz", da - wie es heißt - "das einzige Kapital, das die Sowjetmacht umsonst verteilte" eine Hochschulausbildung für alle war; die Wirren des Krieges, die Deportation der Tschetschenen durch Stalin; die Hungerjahre der Nachkriegszeit, in denen Lina ihre Familie als mit allen Wassern gewaschene Schwarzhändlerin durchbringt; die antisemitische Kampagne gegen den so genannten Kosmopolitismus; die großen Hoffnungen der Perestrojkazeit, die in Baku mit dem Berg-Karabach-Konflikt und den schrecklichen Pogromen gegen Armenier bitter enttäuscht werden; die Ausreisewelle der Juden, die den einen Teil der Familie nach Deutschland, den anderen nach Israel verschlägt, wo die nicht mehr jungen Exilanten ein mühevoller Neuanfang erwartet.

    Den gesamten Text durchzieht das Thema des vielfältigen multinationalen Zusammenlebens, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Ende ging. In Wladikawkas gab es eine russisch-orthodoxe, eine armenische, eine katholische, eine lutherische Kirche sowie selbstverständlich eine Moschee und eine Synagoge. Und Baku mit seinem bunten Völkergemisch, seiner Intellektualität und Musikalität war eine mit ihrem kaukasisch-europäischem Flair ganz unvergleichliche Stadt, in der sich Traditionen, Küche und Lebensweise von Aserbaidschanern, Armeniern, Juden, Russen, Angehörigen verschiedener Bergvölker, Georgiern und Daghestanern gegenseitig bereicherten. Die gemeinsame Sprache ist Russisch, jedoch mit unterschiedlichem kaukasischen Akzent und einer ganz eigenen Sprachmelodie. Lina heiratet in erster Ehe Mark, dessen Mutter Französin, der Vater Armenier war, in der zweiten einen russischen Panzeroberst und in der dritten einen aserbaidschanischen Arzt.

    Grundthema des Romans sind die Familienbande mit ihrem Segen und Fluch, ihrem Glück und Elend. Immer wieder ist man fasziniert von sehr genau beobachteten Szenen einer Familie, in der etwa die Liebe zwischen Mutter und Tochter zugleich herzerwärmende Nähe wie unerträglicher Terror sein kann, wo man aneinander leidet, sich gegenseitig nervt und doch zusammenhält. So ist es für Linas Tante kein Problem, dass diese zum Studium zu ihnen nach Moskau kommt, obwohl sie dort mit Dara in einem Bett noch dazu im Schlafzimmer der Eltern schlafen muss. Oder bei der schon in Frankfurt am Main lebenden Dara werden mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit laufend Pakete mit den so begehrten schicken Westklamotten bestellt, die die bescheidene Dara häufig selbst nicht besitzt.

    Die gleichmütige und auf jede Wertung verzichtende Erzählhaltung bestätigt den Sieg des Lebens. Lina, schon lange von quälenden Krankheiten geplagt, liegt nach mehreren Schlaganfällen im Krankenhaus, aber sie reißt sich nun nicht mehr wie zu Anfang den Schlauch aus der Nase. "Wer weiß, vielleicht wollte sie ja gar nicht mehr sterben", lautet der letzte Satz des Buches.

    Rada Biller: Lina und die anderen. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch, Berlin Verlag 2007, 318 Seiten