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Vignetten eines Lehrerinnenlebens

Die in Los Angeles lebende Schriftstellerin Sarah Shun-lien Bynum ist keine Unbekannte und hat schon einige Literaturpreise erhalten. Ihr zweiter Roman hat die Lebenswelt einer Lehrerin zum Thema und trägt den Titel: "Die überaus talentierte Miss Hempel".

Von Sasha Verna | 05.06.2012
    Im amerikanischen Original lautet der Titel dieses Buches "Ms. Hempel Chronicles". Tatsächlich trifft die Bezeichnung "Chronik" das Wesen von Sarah Shun-lien Bynums zweitem Werk weit besser als der "Roman", den der deutsche Verlag ankündigt. Denn Bynum, die unlängst von der Zeitschrift "The New Yorker" zu einer der besten zwanzig Autorinnen und Autoren unter vierzig gekürt wurde, präsentiert ihre überaus talentierte Miss Hempel in Momentaufnahmen. Es sind Vignetten eines Lehrerinnenlebens. Um genau zu sein: Es sind acht lose miteinander verbundene Geschichten.

    Die Protagonistin ist den Pickeln und Peinlichkeiten der Adoleszenz kaum entwachsen und mag sich mit der Endgültigkeit des Erwachsenseins noch nicht richtig abfinden. Wohl deshalb lieben ihre Schüler sie so. Dass Miss Hempel ihre Siebtklässler mit Schokolade besticht, ihnen nach dem Bad im eiskalten Meer den Rücken abrubbelt und mit ihnen ins Jahr 1627 reist, oder zumindest in ein Dorf, in dem Laienschauspieler den Alltag der ersten Siedler in der neuen Welt nachstellen – all das trägt sicherlich zu ihrer Beliebtheit bei.

    Vor allem aber hat Beatrice Hempel, die selber noch keine 30 ist, die Fähigkeit zu staunen bewahrt. Sie staunt über die unkontrolliert zuckenden Glieder ihrer Schützlinge und über Edward, der sich bei einer Talentschau als Meister des Didgeridoo erweist. Sie staunt über ihre Kollegin Miss Duffy, die von einem Erholungsurlaub hochschwanger zurückkehrt, um dann auf Nimmerwiedersehen in ein Dasein als Mutter und Ehefrau zu entschwinden. Sie staunt über die unzähligen Affären der Bibliotheksassistentin Miss Cruz und über Mister Meacham, den Abteilungsleiter für Geschichte, der ihr rät, sich Miss Ho-Hempel zu nennen und sich damit zu ihrer Identität als Halbchinesin zu bekennen.

    Sarah Shun-lien Bynum erzählt ausschließlich aus der Perspektive ihrer Hauptfigur. Da ist nichts mit auktorialer Distanz und von Meta-Irgendetwas keine Spur. Zwar ist ein ironischer Unterton nicht zu überhören, aber der versteht sich in der Gegenwartsliteratur inzwischen von selbst. Die Autorin liefert jene Sorte antiseptischer Prosa, die zum Fluch und Segen akademischer Schreibwerkstätten geworden, die unauffällig gefällige Verpackung, die große Inhalte verspricht.

    Und es scheint durchaus Dramen zu geben in Miss Hempels Existenz jenseits des Klassenzimmers. Eine gelöste Verlobung, die zerrüttete Ehe ihrer Eltern. Nächtliche Telefonate mit einem Unbekannten, als Miss Hempel noch ein Teenager und Punk war. Was ist mit den Pillen, die der Herr Doktor Klein-Beatrice einst verabreichte? Sarah Shun-lien Bynum deute derlei lediglich an.

    Das ist nicht schlimm. Es verleiht dieser Sammlung von Lebensabschnittstücken sogar etwas Geheimnisvolles. Die Spannung steigt dadurch allerdings nicht. Von einem Spannungsbogen kann erst recht keine Rede sein. Zwischen der ersten Episode und der letzten vergehen fiktiv ungefähr zehn Jahre, und Bynum verpulvert originelle Beobachtungen über das Besonderssein, das einem beim Älterwerden abhandenkommt, über das Schicksal des Mediokren, das den Mozart in fast allen von uns erwartet. Sie schreibt nett über nette Menschen, die Konflikte nett, also gar nicht lösen. Blauäugig betrachtet Miss Hempel, was gewesen ist und was hätte werden können. Der weniger blauäugige Leser tut es ihr gleich und denkt: Ist halt nichts geworden.

    Sarah Shun-lien Bynum: Die überaus talentierte Miss Hempel. Roman. Aus dem Amerikanischen von Andreas Heckmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 19,99 Euro.