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Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 2"
Macht süchtig wie eine gute TV-Serie

Virginie Despentes' Romane um den ehemaligen Plattenladeninhaber Vernon Subutex sind ein Riesenerfolg. Im zweiten Teil der Trilogie wird der Gesellschaftsroman zur Aussteigergeschichte mit Thrillerelementen – und bleibt wunderbar böse.

Von Antje Deistler | 28.02.2018
    Buchcover: Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subutex 2“
    Schriftstellerin Virginie Despentes hat mit ihrern Romanen um Vernon Subutex großen Erfolg (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag, Foto: picture alliance/ dpa/Juan Carlos Hidalgo)
    Am Anfang von "Das Leben des Vernon Subutex 2" findet sich der Titelheld auf einer Parkbank wieder, mehr tot als lebendig. Nur langsam erwacht er aus einem Fieber. Das Obdachlosenleben in Kälte und Nässe hat ihn krank gemacht. Stoisch erträgt Subutex auch das, gleichmütig nimmt er Hilfe von anderen Berbern an. So kennt man ihn: Er ist das stille Auge inmitten des Orkans, den diese Romanserie zeigt.
    Still und stur wird Subutex auch bleiben, wenn sich all seine Freundinnen und Freunde zusammenschließen, um ihn zu retten. Und das nicht, indem sie ihn von der Straße oder aus dem Park holen, sondern indem sie sich genau dort um ihn scharen. Wohl auch, um sich selbst ein bisschen zu retten.
    Gesellschaft an schwerem Fall von Rechtsruck erkrankt
    Der erste Subutex-Teil war die Vivisektion einer Gesellschaft, die sich noch nicht von der Digitalisierung erholt hat und jetzt an einem schweren Fall von Rechtsruck erkrankt ist. Die soziale Analyse ist noch präsent in Teil zwei, sie tritt hier aber ein wenig in den Hintergrund zugunsten der analytischen Erzählung, die jede Detektivgeschichte ausmacht. Denn dort liegt der Schwerpunkt der Fortsetzung: Plötzlich scheint nicht mehr so sicher, dass Vernons Rockstarfreund Alex Bleach tatsächlich versehentlich aus dem Leben geschieden ist. Die alte Krimifrage: "War es ein Unfall, Selbstmord oder Mord?" steht im Raum. Ebenso sät die Autorin Zweifel daran, dass Bleachs Freundin Vodka Satana, ein Pornostar, den schnöden Drogentod ganz ohne Fremdeinwirkung starb.
    Virginie Despentes hat ihren Roman nach eigener Aussage wie im Rausch heruntergetippt. Erst ein Verlagslektor machte den Vorschlag, die rund tausend Seiten in eine Trilogie aufzuteilen. Man könnte die drei Teile auch Staffeln nennen, und die einzelnen Kapitel, jedes aus der personalen Sicht einer anderen Figur geschildert, als Episoden bezeichnen. Geschrieben in dieser typisch rotzigen Despentes Sprache, die Claudia Steinitz mit viel Gespür für Sound und Rhythmus ins Deutsche übertragen hat.
    Schillernde Figuren zum lieben und zum hassen
    Ähnlich wie in erfolgreichen Fernsehserien wimmelt es in der Subutex-Saga von schillernden Protagonistinnen und Protagonisten. Man hat sie inzwischen liebgewonnen oder liebt es, sie zu hassen. In die zweite Kategorie gehört der Filmproduzent Laurent Dopalet. Ein mächtiger, paranoider Psychopath, der deutliche Züge von Dominique Strauss-Kahn trägt und darüber hinaus an alle Bösewichte in der aktuellen MeToo-Debatte erinnert. Dopalet kristallisiert sich als Hauptverdächtiger für die möglichen Morde heraus. Und zwar, weil eine der interessantesten Figuren in Despentes’ Figurenkabinett die Seiten wechselt: die Hyäne.
    Die ehemalige Drogendealerin hatte im Auftrag von Dopalet eine perfide Cybermobbing Kampagne gegen Alex Bleach geführt. Nun ist es ihr gelungen, die Videobänder zu stehlen, die als Vermächtnis des Rockstars gelten. Aber die bisher vollkommen gewissenlose Hyäne geht damit nicht wie geplant zu Dopalet, um Kasse zu machen. Sondern sie überlässt das Material den Guten – dem Freundeskreis von Subutex. Oder "den Pappnasen", wie sie sie nennt.
    Despentes' serielles Erzählen macht süchtig
    Es ist dem schriftstellerischen Genie von Virginie Despentes zu verdanken, dass man diese halsbrecherische Wende klaglos hinnimmt. Möglicherweise hat auch der süchtig machende Effekt ihres seriellen Erzählens etwas damit zu tun, dass man dran bleibt, genau wie man an TV-Serien wie "Game of Thrones" oder "Stranger Things" hängt, in denen die ebenfalls extrem sorgfältig eingeführten und daher glaubhaften Figuren vor den Augen des verblüfften Publikums alle möglichen Haken schlagen.
    Im zweiten Teil von "Subutex" wartet ein ganz neuer Charakter, ein Arbeitsloser namens Charles, mit einer Überraschung auf. Der abgewrackte Säufer ist in Wirklichkeit reich. Er hat im Lotto gewonnen, was er vor allen anderen verheimlicht. Denn er möchte sein Leben genauso weiterführen, wie es ist. Nur besser. Dass die versteckten Millionen im Verlauf von "Das Leben des Vernon Subutex" noch eine Rolle spielen werden, ahnt man. Und kann kaum erwarten, es im dritten und letzten Teil der Serie herauszufinden.
    Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 2"
    Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 389 Seiten, 22 Euro.