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Virtueller Lärm
Software macht Zuglärm originalgetreu hörbar

Zuglärm ist für Anwohner ein großes Problem. Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa haben eine Software entwickelt, mit der hörbar gemacht wird, welche Geräusche Züge auf beliebigen Strecken machen. Das Besondere: Das Programm kommt ohne Originalaufnahmen aus.

Von Simon Schomäcker | 19.06.2019
Ein Güterzug fährt an Häusern in Assmanshausen (Rüdesheim) vorbei
Im Rheintal fahren die Züge mitunter dicht an Häusern vorbei. (picture alliance / dpa - Marius Becker)
Reto Pieren, Akustikforscher von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa im schweizerischen Dübendorf, zeigt ein Video. Darin fährt ein Regionalzug durch einen Bahnhof. Obwohl der Film realistisch wirkt, ist er komplett synthetisch entstanden – mit einer besonderen Software. Die Wissenschaftler können damit detailliert zeigen, aus welchen Einzelgeräuschen sich das Fahrgeräusch von Zügen zusammensetzt und wie man es vermindern kann, erklärt Pieren:
"Wir simulieren eigentlich die Einzelgeräusche eines vorbeifahrenden Zugs – und können uns auch diese einzelnen Komponenten anhören. Beispielsweise ich kann mir bei einer solchen Simulation das Rad Nummer 43 anhören, wie dieses klingt. Und dann aber auch im Zusammenspiel mit dem Rest der über 100 Quellen am Zug."
Einzelgeräusche bei Orginalaufnahmen nicht hörbar
Bisher führen Bahnbetreiber Schallpegelmessungen am Gleis durch, um Abschirmungsmaßnahmen zu berechnen. Es ist jedoch schwierig, mit den Originalaufnahmen zu demonstrieren, wie stark etwa eine Wand Geräusche abhält – oder wie die Züge selbst leiser werden können. Frequenzen lassen sich lediglich tontechnisch anpassen – und Einzelgeräusche können wegen starker Nebengeräusche gar nicht aufgenommen werden. Hier setzen die Schweizer Forscher mit ihrem Programm an.
"In dieser Geräuschsynthese da stecken Rechenmodelle drin. Beispielsweise ein Modell, das dieses Rollgeräusch simuliert. Dabei spielt es eine Rolle, wie die mikroskopische Oberflächenstruktur der Rad-Laufflächen und der Gleise aussieht. Die Interaktion des Rades mit der Schiene wird simuliert. Und aus dieser zeitlich variierenden Anregung des Systems entsteht schlussendlich das abgestrahlte Geräusch."

Die Software kann Lärmemissionen von Zügen auf jeder Strecke originalgetreu hörbar machen – und zusätzlich Lautstärkepegel anzeigen. Natürlich vorausgesetzt, dass die Forscher Informationen über die Gleise und die dort verkehrenden Zugtypen einpflegen. Mit Umgebungseffekten lässt sich der Schall beliebig manipulieren.
"Für jede Quelle am Zug wird die Schallausbreitung simuliert zu einem virtuellen Zuhörpunkt. Und dabei spielen dann Schallausbreitungseffekte eine Rolle – wie beispielsweise Abschirmungseffekte durch eine Lärmschutzwand. Die sind frequenzabhängig. Das heißt, sie beeinflussen hohe Frequenzen stärker als tiefe Frequenzen."
Ein teilweise mit neuartigen, sogenanten "Flüsterbremsen" ausgerüsteter Zug der Deutschen Bahn (DB) fährt im Hauptbahnhof in Bingen am Rhein zur Lautstärke-Messung an einem Mikrofon vorbei. 
Lautstärke-Messungen per Mikrofon erfassen nicht alle Geräuschparameter (dpa picture alliance / Fredrik von Erichsen)
Videos helfen bei der Information von Anwohnern
Die Forscher haben verschiedene Arten von Lärmschutzwänden charakterisiert. Daraus konnten sie digitale Frequenzfilter entwickeln. Um den Abschirmungseffekt beispielhaft zu veranschaulichen, stellen sie zwei Videos bereit – einmal eine Zugdurchfahrt ohne Lärmschutz. Und zum Vergleich noch einmal mit Lärmschutz. Gleichzeitig kann der Betrachter seinen Blick dank 360 Grad-Darstellung schweifen lassen – und so die Zugdurchfahrt von verschiedenen Richtungen aus hören und sehen. Mit solchen Videos könnten sich zum Beispiel Anwohner über eine geplante Lärmschutzmaßnahme informieren, meint Reto Pierens Kollege Kurt Heutschi:
"Eine Pegelreduktion, es geht dann um fünf dB runter, damit können die Anwohner nicht viel anfangen. Aber wenn man ihnen das vorspielen kann und sie das sozusagen virtuell erleben lassen kann, dann denken wir, ist das auch in Sachen Kommunikation eine interessante Möglichkeit."
Mit der Variantion einzelner Baugruppen Akustik verändern
In erster Linie möchten die Empa-Forscher aber Bahnherstellern und Netzbetreibern helfen, Fahrgeräusche zu reduzieren. Dabei möchten die Akustik-Experten aber nicht den Firmen ihre Software verkaufen, sondern ihnen eine Kooperation anbieten.

"Wir gehen davon aus, dass sich dadurch neue Lärmbekämpfungsstrategien auch ergeben können, die vielleicht in der Pegelreduktion alleine gar kein großes Potenzial aufweisen."
Zum Beispiel die Wahl von Rädern oder Motoren. Wie stark sie das Fahrgeräusch eines Zuges beeinflussen, zeigt sich nun deutlich. Denn das Programm ermöglicht es, einzelne Bautypen anzuhören und zu vergleichen. Bahnmitarbeiter, Fahrzeughersteller und interessierte Anwohner erhalten so einen neuen, umfassenden Überblick darüber, wie Bahnlärm entsteht und wie er sich senken lässt.