Dienstag, 19. März 2024

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Visualisierung von Geschichte im Dokumentarfilm
"Die Hauptaussage ist: Glaubt der Zuschauer dem Film"

"Bilderströme" heißt das Symposium, das bis Samstag im Filmforum NRW in Köln stattfindet. Es geht darum, mit welchen Mitteln Dokumentarfilme heute arbeiten. "Es muss alles eine Glaubwürdigkeit haben", sagt Leiterin Petra L. Schmitz. Besonders groß müsse die Sorgfalt bei Filmen zu historischen Themen sein.

Petra L. Schmitz im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler | 30.09.2016
    Objektivwechsel an einer Filmkamera.
    "Es ist eine große Anforderung an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder mit bestimmten Themen bekannt zu machen", sagt Petra L. Schmitz (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Bernd Lechler: Schwarz-weiße Archivbilder - mit oder ohne Musik - und dann ein Sprecher aus dem Off. Dazwischen noch alte Herrschaften als Zeitzeugen, die in einem dunklen Raum sitzen und erzählen. So stellt man sich spontan den klassischen Dokumentarfilm zu einem historischen Thema vor. Ist das überholt?
    Petra Schmitz: Nein, ich denke nicht. Das werden Sie auch noch relativ häufig finden. Das ist auch eine bewährte Mischung. Aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, andere Optionen, Geschichte und Bild zu vergegenwärtigen. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, nur vorhandenes Bildmaterial zu montieren in einer bestimmten Perspektive, wo die Zuschauer sich zum Beispiel erst auch einfinden müssen. Das ist etwas komplexer. Da wird es einem nicht so leicht gemacht, aber man wird natürlich in den Film in eine ganz andere Art und Weise reingezogen. Eine zweite Möglichkeit wäre mit vorhandenem Bildmaterial, das auch wieder zu montieren - zum Beispiel auch Fotos dazu zu nehmen. Das gibt es ja auch relativ oft. Und auf einmal mitten im Film anzuhalten und zu sagen: Halt, jetzt gucken wir uns das Bild mal genauer an. Und die Kamera zoomt zurück und zoomt wieder vor. Man macht also eine Zoom-Bewegung im Film an der der Zuschauer teilhaben kann. Er wird sozusagen genauer auf das Bild gelenkt. Vor allen Dingen wenn es um verdrängte Inhalte gilt.
    "Die Dokumentarfilmer sehen das wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen"
    Lechler: Eine weitere Methode, die auch beim "Bilderströme"-Symposium vorkommt, sind Computeranimationen. Da kommen wir schon weiter ins Digitale und weiter ins Internet. Einer der Symposiumsvorträge erläutert "The Conquest of the Seven Seas". Das ist ein crossmediales Projekt über die Macht von Portugiesen, Spaniern und Briten auf den Weltmeeren im 16. Jahrhundert. Und das besteht aus einer zweiteiligen Fernsehdoku eben plus Website und einem richtigen Online-Strategiespiel, bei dem man seine eigene Flotte gründen und Aufgaben erledigen muss. Ist das die Zukunft oder mehr ein Randexperiment?
    Schmitz: Das weiß ich noch nicht, ob das die Zukunft ist. Es ist auf jeden Fall ein Versuch, einen historischen Stoff in einer Games-Umgebung auszubreiten. Und was das sozusagen bedeutet für den Stoff, der muss ja ziemlich modifiziert werden, weil er sich natürlich auch an die Regeln eines Games anpassen muss. In diesem Strategiespiel muss ein Wettbewerbs- oder Wettkampfcharakter vorkommen. Man spielt gegen die Zeit oder gegen andere. Es muss Levels geben, es muss Interaktivität geben, all diese Dinge. Und wir wollen uns das angucken und fragen: Was kann man an Geschichte überhaupt in diesem Kontext vermitteln? Was wird dabei aus der Geschichte? Welches Geschichtsbild oder Lerneffekte gibt es? Also die Game-Macher selber gehen davon aus, dass man was lernen kann. Sie sprechen von "Learnings". So, und das ist dann wirklich was ganz Neues. Es gibt relativ wenige Game-Hersteller, die das bisher probiert haben, also wirklich einen historischen Stoff umzusetzen. Es gibt natürlich ganz viele Games in einem historischen Setting, aber da geht es mehr um Kostüme.
    Lechler: Die junge Generation ist ja mit dem Internet groß geworden, mit der Clipkultur, mit Youtubern und Games eben. Sie erlebt gerade den Trend zur Immersion, also dass man mehr und mehr eintaucht in eine digital erweiterte oder ganz und gar künstliche Realität mittels Virtual-Reality-Brille. Wie reagieren Dokumentartfilmer auf diese sich verändernden Erwartungen und Sehgewohnheiten?
    Schmitz: Ja, es entstehen wirklich neue Seherfahrungen und die Dokumentarfilmer sehen das wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen. Diejenigen, die eine Sorge haben, dass eigentlich das Dokumentarische sich verflüchtigt und eigentlich immer mehr durch die Fiktion ersetzt wird, sehen das ambivalenter. Es gibt wiederum Dokumentarfilmer, die das als eine Verbreiterung von Ausdrucksformen ansehen, indem sie eben solche crossmedial angelegten Projekte machen, wo sie auch noch Filme machen, dann eben auch digitale und interaktive Elemente hinzufügen. Aber es ist ein offener Prozess, der auf jeden Fall spannend wird und beobachtet werden sollte.
    Lechler: Wie sehen Sie das? Haben Sie Sorge, dass das auch eine Trivialisierung sein könnte?
    Schmitz: Ich kann nur bei dem zweiten Beispiel, was wir haben, das ist ja ein Film, der heißt "Call her Lotte" als Ursprungsmaterial, was auch in ein Game überführt wird. Ich sehe da sozusagen eine große Vorsicht auch bei den Leuten, die das herstellen. Die wollen das erst mal nur für den schulischen Bereich aufbereiten und unter Anleitung eines Lehrers und im Zusammenhang einer Klasse spielen lassen, weil sie natürlich mit dem Stoff sehr, sehr vorsichtig umgehen. Es geht um Fragen, wie hätte ich mich verhalten, wenn meine Freundin, die Jüdin ist, und jetzt kommt der Nationalsozialismus, wie verhalte ich mich zu ihr? Und das muss natürlich mit sehr großer Vorsicht und Fingerspitzengefühl angegangen werden.
    "Es ist eine große Anforderung an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder mit bestimmten Themen bekannt zu machen"
    Lechler: Gestern lief bei Ihrem Symposium als Premiere eine Folge einer vierteiligen WDR-Reihe "Was geht mich das an?" mit in Anführungszeichen "historischen Protagonisten" wie einer Hitler-Verehrerin oder einem DDR-Grenzsoldaten. Ich sage in Anführungszeichen, weil das fiktive Figuren sind, die es hätte geben können. Was ist daran denn noch Doku?
    Schmitz: Also das sind auch Mischformen und das Team hat natürlich auch alte Filmaufnahmen und Fotos mit verwandt in dem Film, aber in einer anderen Art der Visualisierung. Man muss sich so vorstellen: Die Bilder fliegen so auf das Fernsehdisplay ein und dann fliegen sie auch wieder weg. Also sie werden auch gestreamt in Diagonalen und Horizontalen auf dem Display. Also das ist noch mal eine andere Umgangsform mit dem Dokument. Und das zweite Element sind klassische Experteninterviews mit Historikern, die die Situation erklären und damit auch den jungen Zuschauern - es ist ja vor allen Dingen ein Format für junge Leute - und es ist ja auch eine große Anforderung überhaupt an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder auch mit bestimmten Themen bekannt zu machen, auch wenn es gerade Themen aus der eigenen Geschichte sind. Also insofern ist das alles gut, dass das gemacht wird. Und dann gibt es eben als drittes Element eine Protagonistenfigur, die hätte so sein können. Das Historische und damit auch Dokumentarische darin ist das, was die Figur spricht. Es sind alles Originalzitate aus verschiedenen Briefen, Schriftstücken, Interviews. Und man muss sich vorstellen, das sieht dann aus wie Dokumentationstheater. Man hat also versucht sozusagen, etwas ganz Sachliches herzustellen. Ich finde es eine spannende Form und auch da muss man fragen, was entstehen für Geschichtsbilder dabei?
    Lechler: Ich stelle mir vor, bei so einem Symposium treffen ja mehrere Generationen von Filmemachern und Filmemacherinnen aufeinander. Welche Unterschiede beobachten Sie da? Schauen die Jungen anders auf die Welt und durch ihre Kameras als die Älteren?
    Schmitz: Ich habe ja schon mal gesagt, dass es so Leute gibt, die Sorgen haben, dass die Fiktionalisierung zu stark wird im Dokumentarischen. Und das geschieht zum Beispiel durch Computeranimationen, weil das sind ja ausgedachte Elemente im Gegensatz zu Zeitzeugen und "footage". Die Hauptaussage ist eigentlich: Glaubt der Zuschauer dem Film? Und darum muss es gehen. Es muss alles eine Glaubwürdigkeit haben, wie der Film zusammengestellt ist. Und gerade Filme zu historischen Themen, da muss die Sorgfalt ganz groß sein und auch, dass das, was dort ausgebreitet wird, tatsächlich stattgefunden hat. Und da hat die Fiktionalisierung auch in den Visualisierungsmöglichkeiten ihre Grenzen.
    Lechler: Morgen gibt es ein Gespräch, dass sie führen mit Studentinnen der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg über deren Projekt "Research Refugees". Das Thema Flucht und Migration bleibt ja vermutlich auf Jahre wichtig und ein Thema im Dokumentarfilm. Geht man dann mit Geschichte grundsätzlich anders um, wenn diese Geschichte in die Gegenwart reicht?
    Schmitz: Also ich glaube, was wir beobachten können - und das merkt man auch an historischen Dokumentationen -, dass der Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit immer kürzer wird. Das heißt, was gestern schon aufgenommen wurde, ist heute schon footage, ist heute schon Vergangenheit. Darüber waren sich Dokumentarfilmer glaube ich immer im Klaren, dass sie ja Chronisten auch ihrer Zeit sind. Also was sie jetzt drehen wird irgendwann zum Archiv der Vergangenheit, also dass man auf dem Filmbild sehen kann, wie haben die Leute gesprochen, wie waren sie gekleidet, in welcher Umgebung haben sie sich bewegt. Das ist ja das, was Film speichern und bewahren kann im Gegensatz zu anderen Medien und zu anderen Überlieferungsformen. Und an den ganzen Bildern von Flucht und Migration merkt man, wie schnell das inzwischen geht. Und an den Bildern von Flucht und Migration wollen wir noch mal ausloten, wie sozusagen auch durch neue Kontexte, durch Gegenwartsperspektiven auf das was Flucht auch in der Geschichte schon gewesen ist - wir gehen ja insgesamt zurück auf Filme bis 1949 - wie sind die Bilder damals entstanden, wie sehen wir sie heute, welche Kontinuitäten bilden sich heraus, das ist die Frage, die wir haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.