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Visueller Genuss

Germaine Greer ist eine der grand old ladies des Feminismus und – was aus diesem Umstand geradezu zwangsläufig folgt – eine streitbare und umstrittene Autorin. Umstritten auch in den eigenen Reihen. Denn nachdem sie 1968 mit ihrem aufsehenerregenden Buch The Female Eunuch ("Der weibliche Eunuch") zur Amazone im Kampf für die sexuelle Befreiung und gesellschaftliche Gleichstellung der Frau aufgerückt war, fiel sie mit ihrer sechshundertseitigen Studie Sex and Destiny: The Politics of Human Fertility 1984 bei ihren Mitstreiterinnen vielfach in Ungnade. War sie doch hier zu einer kritisch relativierenden Sicht auf die propagierten Ziele und hartnäckig erstrittenen Standards der Frauenbewegung in den westlichen Industriestaaten gelangt, nachdem sie in den siebziger Jahren während ausgedehnter Reisen durch Länder der sogenannten Dritten Welt andere Kulturkreise kennen gelernt hatte.

Von Martina Wehlte | 27.05.2004
    Was damals als Verrat an der Emanzipation der Frau gebrandmarkt wurde, erscheint heute eher als eine differenzierte Sicht der Dinge denn als Widersprüchlichkeit, wie sich überhaupt die erhitzten Diskussionen mit ihren zugespitzten Thesen und verhärteten Positionen aus der zeitlichen Distanz merkwürdig historisch ausnehmen. Heute ist der Ton im Allgemeinen moderater, und es ist nur mehr die ältere Generation, die in einer permanenten Angriffs- und Verteidigungshaltung verharrt, wie sie auch Germaine Greer in Interviews unter Beweis stellt.

    Die gebürtige Australierin, heute Mitte sechzig, war und ist eine attraktive (das sei erlaubt festzustellen) und eine beruflich erfolgreiche Frau, ein "scharfer Kopf", wie man von einem Mann sagen würde. Sowohl ihr unkonventioneller, gleichwohl zielstrebiger Lebensweg von der freien Journalistin über die Gründerin eines Studienzentrums für feministische Literatur in Oklahoma zur Verlagsleiterin und Professorin für englische Literatur in Cambridge, beides seit 1989, sowohl ebendieser Lebensweg als auch die umfangreiche Liste ihrer Publikationen – von provokant formulierten Zeitungsartikeln zu fundierten wissenschaftlichen Studien – erweisen ihre umfassenden Interessen und Kenntnisse, ihren konsequenten Denkansatz und das spezifische Erkenntnisinteresse, das sie zu einer erfrischend neuen Angehensweise bisher noch unerschlossener literatur- und kulturgeschichtlicher Themen führt. Diese Vorzüge kennzeichnen auch ihr neuestes Buch Der Knabe, das jüngst in fünf Ländern gleichzeitig erschienen ist.

    Erste Reaktionen darauf waren erwartungsgemäß voreingenommen, im Positiven wie im Negativen. Während mehrere Frauenmagazine meinten, einer wieder erwachten Feministin zujubeln zu müssen, ging die sogenannte seriöse Kunstkritik mit spitzen Fingern ans Werk und bemäkelte methodische Defizite, die Unvergleichbarkeit des Verglichenen und anrüchige Effektheischerei. Beide Sichtweisen werden der Sache nicht gerecht.

    Wer zu der deutschen bei Gerstenberg erschienenen Ausgabe greift, hält einen opulenten Text-Bild-Band in Händen, der sich beim Aufschlagen jeder beliebigen Seite schon durch sein sorgfältiges Layout empfiehlt. Die drucktechnische Qualität, speziell die farbliche Wiedergabe in den über zweihundert großenteils ganzseitigen Abbildungen lässt nichts zu wünschen übrig. Der Londoner Verlag Thames and Hudson, der die Originalausgabe besorgte, arbeitet seit Jahren erfolgreich mit Druckereien in asiatischen Ländern zusammen, hier in Singapur.

    Beim Durchblättern bietet sich eine ästhetisch herausragende Auswahl von Darstellungen jugendlicher männlicher Schönheit aus allen Epochen. Vom kindlich spitzbübischen Amor über den hehren Lichtgott Apollo, von Botticellis wie hingegossen Schlafendem Mars über Michelangelos Sterbenden Sklaven bis zu den Freikörperkulturbuben in der Malerei um 1900 und dem selbstverliebten David Cassidy in der seinerzeit weitverbreiteten Fotografie von Annie Leibovitz. Der Ausdruck reicht von in sich ruhender Schönheit und Sinnlichkeit über laszives Posieren bis zu ostentativer Sexualität.

    Sie wolle mit ihrem Buch "... nicht zuletzt dazu beitragen, den Anspruch der Frau auf die Lust am visuellen Genuss durchzusetzen", schreibt die promotion-erprobte Autorin in ihrem Vorwort, was die Schmonzetten als Leckerbissen gierig aufschnappen, während es die renommierten Feuilletons mit selbstgeschuldetem Degout zitieren. Greer meint damit eine durch Bildung und speziell durch einen ästhetisch geschulten Blick verfeinerte visuelle Lust, wie sie Männer seit Jahrhunderten in Betrachtung weiblicher Aktdarstellungen für sich beanspruchen.

    Der Knabe ist schön und seine Zeit ist kurz bemessen. "Er muss alt genug sein, um sexuelle Reaktionen zu zeigen, aber noch nicht so alt, dass er sich rasieren müsste", stellt sie fest. Seine Wangen sind glatt, "der Körper unbehaart, das Haupthaar dicht und voll, die Augen klar, der Bauch flach und das Wesen schüchtern." Die Altersgrenzen sind je nach Epoche und Kulturkreis fließend und insbesondere nach oben dehnbar; das erweist sich an den Porträts langgelockter Adelssöhne in der Renaissance ebenso wie an dem jungenhaften Frank Sinatra der 1940er Jahre oder den sogenannten Boy-Groups von heute.

    In Gemälden Michelangelos, Alessandro Alloris oder Bartholomäus Sprangers lässt hingegen der begehrlich-dreiste Knabe Amor, den es nach einer Venus von üppiger Weiblichkeit verlangt, nicht selten noch Babyspeck erkennen, und immer ist er in Ausdruck und Gestalt ganz Kind. Vom gemeinsamen Lager mit Psyche erhebt er sich freilich als Jüngling, der um die Erfüllung seiner Sehnsucht weiß und im neunzehnten Jahrhundert zum Motiv erotischer Schlafzimmermalerei wurde: zum Trost älterer Damen und als Stimulans junger Mädchen, die beide – so Germaine Greer – vom Reiz des Knaben besonders angezogen werden.

    Dass die Faszinationskraft dabei durchaus nicht zwanghaft an die Nacktheit gebunden ist, sondern die Kunst des Verhüllens den Reiz eher steigert, wie schon Goyas La Maya bewies, das zeigt das Foto eines odaliskenhaft drapierten Jünglings der Amerikanerin Collier Schorr. Und die Art, wie einst James Dean oder der junge Elvis Presley ihr Sexappeal in dem Spannungsfeld zwischen jugendlicher Unschuld und gesellschaftlichem Aufbegehren inszenierten, erweist das subversive Potential im Typus des noch nicht erwachsenen Mannes, des ewigen Knaben. Er, der noch nicht seinen vorbestimmten Platz im Geschlechterverhältnis eingenommen hat, der in den bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen noch nicht etabliert ist, könnte – so die Autorin - , das missing link für den Ausgleich zwischen Mann und Frau sein. Ist das der spezifisch weibliche Blick? Es könnte auch der männliche sein, sind doch die hervorragendsten knabenhaften und männlichen Aktdarstellungen von Künstlern geschaffen worden, denen die Kunstgeschichtsschreibung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts prompt Homosexualität oder gar Päderastie unterstellte.

    Germaine Greer zieht solche Behauptungen durch Vergleichsbeispiele mit Witz und Ironie in Zweifel, wie sie überhaupt Automatismen im Denken immer wieder hinterfragt, indem sie Sachverhalte zuspitzt. Als Professorin für Kunstgeschichte hätte sie dieses Buch mit seinem kritisch feministischen Ansatz, dem spezifischen Erkenntnisinteresse am Knaben als einem Ideal sinnlicher Schönheit und als Verkörperung einer Lebensstufe, die alle Möglichkeiten in sich trägt, hätte sie als Professorin für Kunstgeschichte so nicht schreiben können: nicht mit provokanten Kapitelüberschriften wie "Das passive Objekt der Liebe", nicht mit dem Seitenblick auf das Phänomen der Strippershows oder dem Blick hinter die Kulissen von Boy-Groups, auch nicht mit den anthropologischen Abschweifungen zu dem äthiopischen Volk der Surma oder den Ritualen der Woodabe.

    Und wie hätte sie es wagen können, in Picassos zahllosen weiblichen Akten nicht nur die Verherrlichung der Frau zu sehen, sondern auch einen Bannstrahl, der auf den nicht gerade stattlichen Maler fiel, einen Ausdruck seiner phallischen Ängste? Das Buch wäre zweifellos weniger anregend und lesenswert geworden. Allerdings wäre uns die wiederholte Behauptung erspart geblieben, erst im neunzehnten Jahrhundert hätten die Maler weibliche Aktmodelle zur Verfügung gehabt. Sowohl Lucas Cranach als auch Peter Paul Rubens hätten über diese Vorstellung herzlich gelacht!

    Germaine Greer
    Der Knabe
    Gerstenberg, 256 S., EUR 39,90