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Vögelchen flieg'

Jedes elfte Kind in Deutschland kommt zu früh zur Welt. Mittlerweile überleben selbst unreifste Frühchen. Sie haben zum Teil nur etwas mehr als die Hälfte der Zeit im Mutterleib verbracht - 22 Wochen, hier liegt heute die biologische Grenze. Aber ist lebensfähig auch gleichbedeutend mit Lebensqualität?

Von Thekla Jahn | 17.01.2010
    "Das ist das Intensivzimmer für Frühgeborene. Mein Kind hat hier gelegen, hier am Fenster. Der Platz, das war zehn Wochen unsere zweite Heimat...Ja ich bin froh, dass wir nicht mehr hier sind, dass alles gut gegangen ist. Aber allein diese Monitorgeräusche, die Sie hören, dieser Gong, da kommt so einiges wieder hoch."

    "450 Gramm wog mein Sohn und hatte eine Länge von 28 Zentimetern. Also eine Handvoll eigentlich. Er sah aus, wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Also ganz winzig klein, die Haut ganz rot und einfach noch nicht fertig für diese Welt, so hmm…"

    "Und hier sind natürlich überall Schnüre und Schläuche, das ist eben dann – da werden Medikamente durchgegeben und auch die Ernährung, also am Anfang ist er auch am Tropf nur ernährt worden- ja das sind so die ersten Bilder."

    Karin B. hält einen kleinen Stapel Fotos in der Hand: Fotos von Simon - von damals bis heute. Bald sechs Jahre ist es her, seit er in der Bonner Universitätskinderklinik bei Professor Peter Bartmann geboren wurde - nach nur 25 vollendeten Schwangerschaftswochen – dreieinhalb Monate zu früh.

    "Und dann stand die ersten Tage im Vordergrund: Wird mein Kind überleben?"

    Bartmann:

    "Der nachgeburtliche Verlauf ist bei diesen Kindern erfahrungsgemäß nicht so einfach, wie bei reifen Neugeborenen. Aber das Entscheidende ist die Lebenskraft und die Anfangskomplikationen. Die Entscheidung fällt eigentlich am ersten Lebenstag. Und Simon hat hier hat von Anfang an gezeigt: er will leben, er kann leben und deswegen hat er auch diesen guten Verlauf nehmen können."

    Idealerweise dauert eine Schwangerschaft 40 Wochen. Doch jedes elfte Kind in Deutschland kommt als Frühchen zur Welt, das heißt mit weniger als 37 Schwangerschaftswochen. Als "kleine" oder "frühe Frühchen" gelten Kinder, die unter 32 Wochen im Mutterleib waren oder mit einem Gewicht von 1500 Gramm oder weniger geboren werden. Das sind immerhin noch 8000 Kinder jährlich. Extrem früh - und auch selten - ist es, wenn sie nach nur 22 bis 26 Schwangerschaftswochen zur Welt kommen. Die Risiken für eine Frühgeburt - sie scheinen bekannt. Und klar ist: vor allem Infektionen gehören dazu. Doch das Wissen nützt offenbar kaum: Über 60.000 Mal im Jahr wird ein Kind in Deutschland zu früh geboren. Das sind neun Prozent aller Geburten, Tendenz gleichbleibend bis steigend. Bartmann:

    "Das ist eine Riesenenttäuschung. Das spricht vielleicht auch dafür, dass wir doch noch zu wenig verstehen, warum es zu einer Frühgeburt kommt. Denn wenn alle sonst durch Hypothesen getragenen Therapien nicht zu einer Besserung führen, dann muss man ganz knallhart sagen: Dann haben wir wohl nicht die richtigen Hypothesen und das ist wahrscheinlich der Stand der Dinge."

    Dennoch hat sich etwas verändert: Immer öfter überleben die Frühchen. Und es sind immer jüngere Frühchen, die überleben. Die jüngsten haben gerade einmal 22 Wochen im Mutterleib verbracht. Doch was bedeutet ein derart "unreifer Start" für die spätere "Reife" – zum Beispiel in der Schule? Vor zwanzig Jahren wurden erste Studien konzipiert. Nach und nach und mit unterschiedlichen Schwerpunkten begann man, die Langzeitentwicklung von frühen und extremen Frühchen zu beobachten.

    "Wir machen jetzt einen Test zum sprachlich-logisch-schlussfolgernden Denken. Emilie, du kennst das schon, das sind Rätselfragen: Jeder Mensch hat es am Kopf, es ist an beiden Seiten vorhanden und man kann damit hören. Was ist das?"

    "Ein Ohr!"

    "Ja, toll. Was hat ein Fell, wedelt mit dem Schwanz und bellt?"

    "Hund!"

    "Super…"

    Testsituation in Hannover, im sozialpädiatrischen Zentrum am Kinderkrankenhaus auf der Bult. Hier untersucht der leitende Psychologe Michael Wachtendorf Frühgeborene, die einst mit unter 1000 Gramm zur Welt kamen. Emilie ist heute vier Jahre alt.

    "Und jetzt machen wir noch etwas anderes, es geht um das Satzgedächtnis - wir spielen das Papageienspiel und jetzt sage ich dem Papagei mal ganz komische Sachen: Da musst Du besonders gut aufpassen: 'Die Mütze hat gebellt!"

    "Die Mütze hat gebellt… die Mütze kann doch gar nicht bellen!"

    "Genau, das ist eine komische Sache. Ich sag Dir noch mehr…"

    Hannover ist eines der europäischen Langzeit-Studienzentren. Seit mehr als zehn Jahre begleitet man dort insgesamt 200 Frühchen. Sie werden in regelmäßigen Abständen körperlich untersucht. Und es wird getestet, ob sie sich wie ein reif geborenes Kind verhalten und kognitiv ein vergleichbares Niveau erreichen. Jetzt liegen erste Zwischenergebnisse vor: Jedes 6.Frühchen ist geistig behindert oder leidet an der so genannten Zerebralparese; dabei ist das zentrale Nerven-und Muskelsystem beeinträchtigt, die Kinder entwickeln Spastiken. 75 Prozent – so stellte Dr. Wolfgang Voss vom Sozialpädiatrischen Zentrum Hannover fest - konnten später in einer normalen Schule mithalten, wenn auch jedes dritte der Kinder einmal eine Klasse wiederholen musste.
    "Das ist ein, finde ich, relativ gutes Ergebnis, das wir am Anfang gar nicht erwartet hatten, als wir die Kinder mit vier Jahren erstmals psychologisch getestet haben und uns die medizinischen Daten vor Augen geführt hatten, da hatten wir die Sorge, dass der Anteil von Regelschülern oder sagen wir normal entwickelten Kindern deutlich unter 50 Prozent liegen würde, was sich im Laufe der Zeit doch eher etwas verbessert hat."

    "Das Gerät gibt mir jetzt gerade eine Info, dass etwas mit der Atemhilfe nicht funktioniert…und jetzt muss ich einfach gucken, ob das Gerät nicht funktioniert oder die Atemhilfe sich gelöst hat."

    Mit schnellen Griffen sorgt Luise Weimann-Metzen auf der Bonner Neonatologiestation dafür, dass die Atemhilfe wieder ihr Sauerstoff-Luft-Gemisch in den Rachen des winzigen Säuglings leitet.

    "Nein, es ist gar nichts Dramatisches."

    Routine für die Intensivschwester. Über mehrere Wochen oder Monate liegen die frühen und extremen Frühchen auf der Neonatologie: Im Wärmebettchen, an Schläuchen und Sonden, angeschlossen an hochkomplexe Überwachungsgeräte. Für Karin B. war es eine verkehrte Welt:
    "Also was bemerkenswert ist: Mein erster Blick war, auch morgens wenn ich reinkam, auf den Monitor: Wie ist die Herzfrequenz, wie ist die Atmung, wie ist die Sauerstoffsättigung, - also man wird sehr schnell von diesem Apparat abhängig – fand ich bemerkenswert, dass man sich erstmal die Technik ansieht und nicht das eigene Kind, wie es aussieht, die Hautfarbe, ob es wach ist oder schläft."

    Je kürzer eine Schwangerschaft, also die Zeit, in der sich der Organismus eines neuen Menschenkindes entwickeln kann, desto unreifer und damit gefährdeter ist er. In den ersten Stunden und Tagen nach einer frühen Frühgeburt droht vor allem Gefahr von der Lunge her. Zur Stabilisierung der Lungenbläschen benötigt die kindliche Lunge den Reifefaktor Surfaktant. Er wird normalerweise vom Kind produziert. Dieser Faktor ist in etwa mit einem Spülmittel vergleichbar. So wie Wasserblasen ohne Spülmittel im Spülbecken rasch zerplatzen, so ist es bei den Lungenbläschen. Ohne Surfaktant fallen die einmal belüfteten Alveolen immer wieder zusammen. Die Kinder drohen zu ersticken. Damit das bei Frühchen nicht der Fall ist, gibt man ersatzweise Surfaktant, das aus tierischen Lungen gewonnen wird. Die Behandlung ist seit bald 20 Jahren Standard, aber, so Peter Bartmann,

    "was sich grundlegend verändert hat, ist: Wir haben heute sehr viel mehr Zutrauen in die eigenen Kräfte des Frühgeborenen. Heute versuchen wir, die immer vorhandene Atmung zu unterstützen."

    Statt mit Beatmungsmaschinen unterstützt man in letzter Zeit das spontan atmende Frühgeborene meist über eine Sonde mit Surfaktant. Das bekämpft das Atemnotsyndrom und ist schonender. Denn ein Zuviel an Sauerstoff kann das noch unreife Gehirn sowie die Augen schädigen. Auch kann durch künstliche Beatmung die Lunge auf Dauer schweren Schaden nehmen, es kommt zur sogenannten bronchopulmunalen Dysplasie. Seit Frühchen mit Surfaktant behandelt werden, ist die Zahl dieser chronischen Lungenerkrankungen deutlich zurückgegangen. Bartmann:

    "Während sie früher für Kinder unter 1000 Gramm etwa bei 30 Prozent lag, ist es in den letzten Jahren gelungen, das unter zehn Prozent zu drücken. Das ist ein Riesenschritt vorwärts und zeigt halt, dass die Kinder doch sehr viel leistungsfähiger sind, als man sich das früher vorgestellt hat."

    Um der bronchopulmunalen Dysplasie noch besser zu begegnen, verfolgen Mediziner in Ulm und Leipzig die Idee einer Hormonersatztherapie. Während der Schwangerschaft erhält der Körper des Ungeborenen über die Plazenta Östrogen und Progesteron. In der Lunge sitzen auffällig viele Rezeptoren für diese Hormone. Deshalb versorgen die Mediziner die Kinder auch im Brutkasten damit. Sie spritzen die Naturhormone in einer speziellen Fettemulsion. Die Erfolge einer kleinen Studie mit 130 frühen Frühchen sind vielversprechend. Über zehn Jahre nachuntersucht, zeigten sie entweder keine oder nur eine sehr schwache Lungenfunktionsstörung. Außerdem entwickelte sich das Gehirn besser. Die Ergebnisse sollen jetzt in einer großen klinischen Studie überprüft werden. Belegt ist inzwischen auch der Erfolg von Viagra. Offenbar ein multipotentes Potenzmittel. Leidet ein kleines Frühchen nach der Geburt an Lungenhochdruck, so hilft der Viagra-Wirkstoff Sildenafil dabei, die zu engen Blutgefäße zu erweitern. Das Blut kann wieder besser durch die Lunge fließen und der Körper erhält ausreichend Sauerstoff.

    In den ersten Lebenstagen kleiner Frühchen geht es nur darum: Schafft es das Kind? Neben der Lunge ist das Gehirn das Organ, das mit Sorge betrachtet wird. Nach wie vor bekommt ein Drittel der Kinder, die vor der 27. Schwangerschaftswoche geboren werden, Hirnblutungen. Ein ungelöstes Problem. Je schwerer die Hirnblutung, desto dramatischer die körperlichen und geistigen Folgen. Mehr zufällig haben Hannoveraner Mediziner jetzt entdeckt, dass das Dopingmittel Epo hilfreich sein kann. Seit zehn Jahren untersuchen sie alle in Hannover geborenen Frühchen regelmäßig. Einer Gruppe gaben sie Epo, um die Bildung roter Blutkörperchen anzuregen. Als Nebeneffekt zeigte sich:
    "Unter der Substanz Epo ist möglicherweise das Ausmaß oder die Folge einer Hirnblutung nicht so gravierend und es ist möglicherweise ein besserer Regenerationsprozess des verletzten Gehirns zu erwarten."

    Wissenschaftlich gesichert ist die Beobachtung, die der Hannoveraner Kinderneurologe Dr. Wolfgang Voss schildert, noch nicht. Doch eine gerade veröffentlichte Studie Göttinger Forscher vom Max-Planck-Institut geht in die gleiche Richtung: Mäuse, die drei Wochen mit Epo "gedopt" wurden, konnten plötzlich deutlich besser lernen. Überleben – das war für extreme Frühchen vor zwanzig Jahren nicht selbstverständlich, in vielen Kliniken starben noch sechs von zehn Kindern. Doch die Entwicklung ging weiter. Vor zehn Jahren lag die Überlebensrate bei 50 Prozent. Heute sind es schon drei Viertel aller Kindern, die in der 24. und 25. Schwangerschaftswoche geboren werden oder mit einem Gewicht unter 750 Gramm ins Leben starten.

    Zurück in Bonn auf der Frühgeborenen-Station. Intensiv-Krankenpfleger Jörg Hamm nimmt Sophie – mit 580 Gramm in der 26. Schwangerschaftswoche geboren – behutsam auf den Arm.

    "Ja die kleine Dame hier ist gerade von der Untersuchung zurückgekommen in der Augenklinik – das ist auch so eine Baustelle bei den Kleinen, dass die Augen unreif sind, dass das überwacht werden muss, wird gleich wieder an unsere Monitorüberwachung angeschlossen…"

    Bei extremen Frühchen entwickelt sich die unfertige Netzhaut oft nicht richtig. Früher hieß das: fast jedes zwölfte Kind erblindete. Heute kann, falls nötig, operiert werden. Vielleicht benötigt Sophie später eine Brille, doch ihr Augenlicht wird sie wohl nicht verlieren. Mehr Sorgen macht Jörg Hamm ein anderes Organ: der Darm, der bei extremen Frühchen oft noch zu schwach ist, um die Verdauung zu bewältigen. Es kommt vor, dass er platzt - nennenswerte Fortschritte kann die Medizin da nicht vorweisen. Sophies Darm hatte sich kurz nach der Geburt entzündet, auch das eine Folge der Unreife. Die nekrotisierende Enterokolitis führte dazu, dass Teile des Gewebes abstarben. Sie mussten entfernt, der Darmverlauf abgekürzt und ein künstlicher Ausgang gelegt werden. Hamm:

    "Ja, sie ist jetzt schon ein gutes halbes Jahr auf Station. Sie hat halt mehrere Schwierigkeiten, die ein Frühgeborenes haben kann, das kann auch schlecht ausgehen."

    Ein frühes Überleben hat seinen Preis. Nicht immer gelingt es, die Frühchen gesund und stark ins Leben zu schicken, bedauert der Entwicklungspsychologe Professor Dieter Wolke von der University of Warwick.

    "Es gibt einen - im Englischen würden wir sagen 'turning point', oder 'Umkehrpunkt', wo die Effekte der frühen Geburt viel größer werden. Also von etwa der 31. Schwangerschaftswoche gibt es jede Woche, die man verliert, größere Auswirkungen."

    Wolke leitet die britische Epicure-Studie. Flächendeckend wurden dabei alle Frühchen nachuntersucht, die 1995 mit 26 Schwangerschaftswochen und weniger auf Neonatalstationen in Großbritannien und Irland geboren wurden. Jetzt lässt sich über die Entwicklung in den ersten zehn Lebensjahren sagen:

    "40 Prozent der extrem Frühgeborenen hatten Lernbehinderungen gegenüber einem Prozent der 'Kontrollen' Es bedeutet, dass 40 Prozent dieser Kinder einen IQ unter 70 haben."

    Dabei punkteten die ehemaligen Frühchen vor allem mit sprachlichen Fähigkeiten. Sobald sie jedoch logisch-abstrakte Aufgaben lösen sollten - beispielsweise geometrische Figuren neu zusammenlegen - scheiterten sie sehr schnell. Hier lagen ihre Leistungen oft unter ihrem Gesamt- IQ von 70. Und das erklärt Dieter Wolke so:

    "Oft ist es so, dass bei den mathematischen Leistungen unterschiedliche Eingaben im Gehirn verarbeitet werden müssen, zum Beispiel auch schlussfolgerndes Denken. Und gerade in dieser simultanen Informationsverarbeitung haben die Kinder häufiger Probleme. Das zeigt sich auch in dem Sozialverhalten: sie haben häufiger Auffälligkeiten mit Gleichaltrigen und wir denken dass das auf den gleichen Mechanismus zurückgeht. Wenn sie in einer Gruppe sind, müssen sie ja mit verschiedenen Leuten gleichzeitig kommunizieren oder wahrnehmen, was die vorhaben."

    Neben diesen kognitiven Defiziten zeigte sich bei den ehemaligen frühen Frühchen außerdem:

    "Sie haben mehr Aufmerksamkeitsprobleme, dass sie sich nicht konzentrieren können und auch schon in der Kindheit häufiger emotionale Probleme wie Angst- und Depressionsstörungen"

    Sehr ängstliche Kinder sind viermal häufiger als in der Normalbevölkerung. Wolke vermutet, dass die emotionalen und psychischen Probleme von Frühchen damit zu tun haben, dass sie unfähig sind, verschiedene Informationen gleichzeitig zu verarbeiten. Es fällt ihnen schwer, Emotionen zu ergründen und eine problemorientierte Lösung zu finden. Eine aktuelle und noch nicht veröffentlichte britische Mutter-Kind-Studie stützt diese These. Für die Studie wurde das gesamte Spektrum – also extrem frühe Frühchen und reifere beobachtet und zwar im Alter von 18 Monaten. Alle zeigten eine so genannte disorganisierte Bindung zu ihren Eltern. Das heißt, ihr Verhalten war widersprüchlich und stark von Ängsten geprägt. Und das, obwohl die Eltern besonders feinfühlig mit ihren Kindern umgingen. Dieter Wolke:

    "Wir fanden, dass es überhaupt nichts mit dem Elternverhalten zu tun hatte, sondern dass diese kognitiven Probleme, dieses Problem der simultanen Informationsverarbeitung sich auch auf die Bindungsentwicklung dieser Kinder auswirkt."

    Mehr noch als körperliche Probleme scheinen die emotionalen und kognitiven Defizite das Los vieler Frühchen zu sein. Dabei fällt auf: Ob ein Mädchen oder ein Junge zu früh geboren wird, ist nicht dasselbe. Unter 28 Schwangerschaftswochen spielt das Geschlecht eine Rolle für die zukünftige Entwicklung. Wie die britische Epicure-Studie festgestellt hat, haben Jungen doppelt so häufig dauerhaft Probleme. Wolke:

    "Wir denken, dass es damit zu tun hat, dass es Unterschiede gibt beim Zeitpunkt der Gehirnentwicklung bei Mädchen gegenüber Jungen. Man kann das vergleichen vielleicht mit der Pubertät. Sie nehmen 12jährige Mädchen und 12jährige Jungs. Die Mädchen sind ähnlich groß, sie sind weiter entwickelt. Schauen Sie sich die mit 16 Jahren an, dann sind sie wieder beide gleich. Das heißt bei extrem frühgeborenen Jungs ist es so, dass sie vielleicht in der Gehirnentwicklung noch nicht ganz so weit sind."

    Auch eine andere Erkrankung tritt bei extremen Frühchen gehäuft auf und scheint ebenfalls mit dem Stadium der Gehirnentwicklung zum Zeitpunkt der Frühgeburt zu tun zu haben: Autismus. 16 Prozent leiden an einer deutlichen autistischen Entwicklungsstörung, in den meisten Fällen können sie sozial nur unzureichend kommunizieren, fallen durch Rituale auf und haben zudem starke kognitive Probleme.

    "Die wenigen Studien, die es gibt, die wöchentlich bei den extrem Frühgeborenen schon in der Neonatalstation Computertomographien durchführen konnten, haben gezeigt, dass zum Beispiel die Faltung des Cortex nur etwa 60 Prozent der von Reifgeborenen ist und dass sich auch die Masse verringert. Das heißt, dass allgemein das Gehirn sich anders entwickelt, schon frühzeitig aufgrund der extrem frühen Geburt."

    Die mangelhafte Entwicklung des Gehirns scheint bei einem Teil der Kinder kaum mehr aufzuholen, dennoch – und das war bislang vielleicht die wichtigste Erkenntnis - hilft ihnen vor allem eines: gezielte Förderung.

    "Es war Ende der 26. Woche, es kündigte sich nichts an, und dann kam eben ein spontaner Blasensprung und Florian ist eben geboren worden per Kaiserschnitt, mit einem Geburtsgewicht von 890 Gramm. Ich wusste, wie kritisch die Situation war, eine 26 Woche war vor 20 Jahren sehr früh. Also die Hoffnung, glaube ich, das ist das, was einen trägt. Wenn ich die nicht gehabt hätte, hätte ich, glaube ich, die Hälfte der Zeit nicht überstanden."

    Michaela Poormanns Sohn ist mehrfach behindert. Er leidet an einer Tetraspastik. Nach sieben größeren Operationen kann er im Rollstuhl sitzen. Seine Arme sind nur eingeschränkt beweglich. Zudem ist er geistig behindert und kann kaum sprechen. Dennoch will er sich verständlich machen: Florian hat gelernt – was gar nicht so einfach ist - einen "Alpha-Talker" zu bedienen: Das ist ein Sprachcomputer. Damit äußert sich der 20jährige. Manchmal wird er dabei ungeduldig, denn das Tippen dauert lange. Auch kann er nur zentrale Wörter eingeben und ist deshalb darauf angewiesen, dass sein Gesprächspartner sie richtig interpretiert.

    "Langweilig…zuhause"

    "Soll ich mal erzählen, wie das zuhause war? Daß du nicht mehr mit Deiner Mutter am Strand spazieren gehen wolltest und auch nicht mehr ins Kino? Das fandest Du doof."

    "Jaah!"

    "Du wolltest mit jungen Leuten zusammen sein."

    Michaela Poormann hat schließlich mit ihrem Sohn gemeinsam die Lobetalstiftung, eine Diakonieeinrichtung in Celle gefunden. Hier wohnt er jetzt betreut und zusammen mit fünf anderen behinderten jungen Menschen. Zwar führt er kein komplett selbst bestimmtes, aber doch sehr "mitbestimmtes" Leben. Nach zwölf Jahren konnte er eine Schule für körperlich und geistig behinderte Menschen abschließen. Und jetzt "arbeitet" Florian.

    "Steckspiel!"

    "Machst Du im Moment Steckspiele?"

    "Jaah!"

    "Ich dachte Du bist beim Schrauben, aber wechselt das?"

    "Jaah!"

    Florian will Werkstattarbeit leisten. Er will sinnvolle Arbeit leisten, nicht nur Beschäftigung. Eine erstaunliche Entwicklung hat Florian seit seiner Geburt in Hannover genommen – viel hat das mit seiner Mutter zu tun, die von Anfang an darum kämpfte, dass er die richtigen Therapien bekam. Bei extremen Frühgeburten wie Florian waren auch Wolfgang Voss und seine Kollegen lange davon ausgegangen, dass die biologischen Gegebenheiten den Lebensweg vorzeichnen. Die Hannoveraner Frühchenstudie, die jetzt die Ergebnisse über zehn Jahre parat hat, zeigt stattdessen:

    "Auf der Langstrecke macht sich dann die elterliche Bildung beziehungsweise das damit vermittelte Bildungsangebot für die Kinder als wesentlicher Faktor der kognitiven Entwicklung erheblich bemerkbar."

    Erste Konsequenzen hat das Land Niedersachsen bereits gezogen: Ärztekammern, Krankenkassen, niedergelassene Frauen- und Kinderärzte, sowie Neonatalstationen und Selbsthilfegruppen bauen derzeit ein umfassendes Versorgungsnetzwerk für Frühchen auf. Es könnte in Deutschland eine Vorreiterrolle spielen.

    "Kriege ich einen Abschiedskuss, bevor wir von dannen gehen?"

    "SCHMATZ"

    "Wir.."

    "SCHMATZ"

    "...sehen uns am nächsten Donnerstag, dann hole ich dich ab, nicht."

    "STERN"

    "Ich bin Dein Stern? Das wäre mir neu. Oh- so, alles klar."

    "TSCHÜSS!"

    Immer mehr Kliniken setzen inzwischen auf frühzeitige Förderung und damit auf ein spezielles Nachsorgekonzept: auf das sogenannte Case Management. Auch an der Universitätskinderklinik Bonn kümmert sich inzwischen ein Team aus Intensivschwestern und Psychologen um die Frühchen und ihre Familien, hilft den Übergang vom Krankenhaus nach Hause zu bewältigen.

    "Man muss einfach bedenken, sie kommen von einer Intensivstation, die Kinder sind am Monitor, alles ist Hightech-überwacht und dann geht es nach Hause, teilweise auch ohne Monitore und da hilft man den Eltern einfach zu lernen, noch einmal Eltern zu werden und ihr Selbstbewusstsein auch zu entwickeln, dass jetzt die intensive Phase zu Ende ist und sie jetzt ihr Familienleben leben können und dürfen."

    Was die Case Managerin Luise Weimann-Metzen beschreibt, hört sich einfach und nach weniger an, als es ist. Doch die Unterstützung der Familien ist notwendig. Und sie ist zusammen mit der Vernetzung der Familien mit Fachleuten und Behörden auch sehr effektiv. In einer fundierten Nachuntersuchung kam vor drei Jahren heraus: Die Mutter-Kind-Beziehung ist deutlich besser und damit auch die Prognose für die emotionale und soziale Entwicklung eines Frühchens. Familien finden sich im Informationsdschungel besser zurecht und nutzen Fördermaßnahmen stärker. Besonders wichtig ist die intensive Nachbetreuung der Eltern für sozial schwächere Familien und speziell für Migranten. Hier sind die Chancen für die Frühchen besonders schlecht. Das haben alle bisherigen Studien gezeigt: Lernbehinderungen sind dann bis zu sechsmal häufiger. Natürlich ist bei all den Zahlen klar: Im Einzelfall kann es ganz anders aussehen, wie bei einem Frühchen, das in Hannover mit 24 Wochen zur Welt kam und heute auf dem Gymnasium beste Leistungen zeigt. Alles ist möglich, aber je geringer die Zeit im Mutterleib ausfällt, um so unwahrscheinlicher wird es. Simon aus Bonn gehört da zu den positiven Beispielen. Auch sein Weg war nicht immer leicht. Ein bald sechsjähriger Weg, über den seine Mutter, eine Rechtsanwältin, sagt:

    "Es war zeitlich alles stark verschoben, er hat sehr viele Dinge erst sehr viel später gemacht, erst mit zwei Jahren fing er an zu laufen, oder bis zum dritten Lebensjahr hat er fast kein Wort gesprochen, das kam zu einem späteren Zeitpunkt, aber es kam alles. Inzwischen ist es so, dass alles in einem Normalbereich ist."

    Heute ist Simon ein ausgesprochen hübscher Junge mit einem aufmerksamen, gewitzten Gesichtsausdruck. Peter Bartmann:

    "Diese Kinder, die aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheinen – wir haben die Bilder der Mutter gesehen – ja, da werden richtige Menschen draus, die ganz normal aussehen."

    Doch das gilt lange nicht für alle extrem Frühgeborenen. Während noch vor zehn Jahren keinem Kind unter der 24. Schwangerschaftswoche ein Überleben zugetraut wurde, liegt die Schallgrenze heute bei 22 Wochen – das allerdings meist mit schweren Komplikationen und Langzeitfolgen. Kommen da nicht gelegentlich Zweifel auf am eigenen Tun? Dieter Wolke:

    "Es ist ein erschreckendes Ergebnis auf der einen Seite, auf der anderen Seite, man kann es immer so betrachten: Ist die Flasche halb leer oder halb voll. Man muss auch bedenken, dass viele von den Eltern wahrscheinlich kein Kind gehabt hätten, wenn es nicht diese neonatale Medizin gäbe."

    Viel hängt von der medizinischen Betreuung ab. Sie verbessert sich stetig - wobei in spezialisierten Perinatalzentren die Chancen für die extremen Frühchen wohl größer sind als in Krankenhäusern, die nur zehn der Kleinsten im Jahr oder weniger betreuen. Peter Bartmann:

    "Was aber auch ganz klar ist, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen sollte, obwohl man es manchmal kann, und man kann Leben auf Kosten schwerster Komplikationen erhalten, aber das ist sicherlich nur machbar, wenn die Eltern dahinter stehen."

    Gezielt gefördert, lässt sich bei behinderten Kindern noch einiges erreichen, aber eben auch nicht mehr. Bartmann:

    "Also bleibt vor allem die Überlebensqualität zu verbessern, zu verstehen, warum wir diesen Zusammenhang haben: je unreifer das Kind, desto schlechter die Langzeitprognose – das ist nicht wirklich verstanden und mit am spannendsten wird es sein, versuchen herauszufinden, wie viel Sauerstoff braucht das Kind eigentlich nach der Geburt.""

    Nach wie vor bleibt in medizinischer Hinsicht die extrem unreife Lunge das Hauptproblem – mit allen daraus resultierenden Folgen für die Entwicklung und Schädigung des Gehirns. Es gibt eine ganze Reihe von Ideen. Auch quere Gedanken sind erlaubt. Im Mutterleib war das Kind ob einer geringen Sauerstoffkonzentration permanent blau. Wie viel Sauerstoff braucht es wirklich, wenn es auf der Welt ist? Bartmann:

    "Hier liegt wahrscheinlich auch das größte Potential für die Zukunft – es ist auch denkbar aus meiner Sicht, dass man sich in zehn Jahren nicht mehr über das rosige Baby freut, sondern über das blaue Baby, was eine besonders gute Prognose hat."