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Völkermord an Armeniern
Gewaltige Sprache, schweres Thema

Mit seinen Berichten machte der Orientalist und Menschenrechtler Johannes Lepsius die Gräueltaten an den Armeniern bekannt und veröffentlichte 1919 auch die diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes zum Thema. Der Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam, Rolf Hosfeld, veröffentlicht nun zum 100. Gedenktag des Massakers ein Buch zu den Ereignissen.

Von Dorothea Dieckmann | 23.04.2015
    Fotos in einer Ausstellung über die Verfolgung der Armenier im Lepsius-Haus in Potsdam
    Fotos in einer Ausstellung über die Verfolgung der Armenier im Lepsius-Haus in Potsdam. (dpa / picture alliance / Bernd Settnik)
    Am 24. April 1915 wurden in Istanbul Hunderte armenische Intellektuelle verschleppt und ermordet. Am selben Tag gab ein Regierungstelegramm Anweisung, die deportierten Bewohner einiger ostanatolischer Städte nicht mehr ins Landesinnere, sondern in die mesopotamische Wüste zu treiben. Wer nicht auf den Märschen starb, fand den "Tod in der Wüste". So lautet auch der Titel einer neuen Studie über das Schicksal der Armenier. Die Begegnung zwischen dem Deutschen Johannes Lepsius und dem damaligen Kriegsminister Enver Pascha, die schon Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" verarbeitet hat, schildert auch der Autor Rolf Hosfeld am Beginn seines Buches.
    "'Ich übernehme die Verantwortung für alles', sagte der dreiunddreißigjährige Enver in fließendem Deutsch, als ihn Lepsius auf die Vorgänge im Inneren ansprach, und holte dann zu einem langen Vortrag aus, in dem er über die militärischen Notwendigkeiten dozierte, die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen revolutionäre Elemente des Reichs zur Pflicht gemacht hätten. 'Ich selbst glaube nicht an eine armenische Verschwörung', hielt ihm Lepsius entgegen und fragte, ob es dafür irgendwelche handfesten Beweise gäbe. In diesem Augenblick setzte Enver ein überlegenes Lächeln auf und antwortete: 'Dessen bedarf es nicht, wir kommen selbst von der Revolution her und wissen, wie so etwas gemacht wird.'"
    Es ist diese anschauliche, ausschmückende Schreibweise, die Hosfelds Buch trotz des grausamen Inhalts fast unterhaltsam flüssig, damit aber auch zu einer ambivalenten Lektüre macht. Es verfolgt die zunehmende Radikalisierung der osmanischen Armenierpolitik in einer Mischung aus Zahlen, Zitaten und Interpretationen, die stets dem Erzählfluss untergeordnet bleiben. In lockerer Chronologie wird dabei die Entwicklung seit der Zeit des Sultans Abdul Hamid geschildert. Die europäischen Mächte nötigten ihn im Zuge der Balkankrise zu Reformen gegenüber der armenischen Bevölkerung, die jedoch nie durchgeführt wurden. Unter seiner Herrschaft kam es schon zwanzig Jahre vor dem Völkermord zu Pogromen, denen Hunderttausende zum Opfer fielen. Hier schlägt Hosfeld ein reißerisches Parlando an:
    "Gerüchte machten die Runde und schaukelten sich hoch ... Paranoia breitete sich aus ... Der Ruf des Djihad ging um ... Gerüchte schossen ins Kraut, Verdächtigungen machten die Runde, Verschwörungstheorien bemächtigten sich der Wortführer in den Teehäusern."
    Am überzeugendsten innerhalb dieser populärwissenschaftlichen Darstellung ist die Analyse der jungtürkischen Bewegung und der Ideologie ihrer Protagonisten. Nach der Machtübernahme ordneten sie im Zuge des Ersten Weltkriegs schrittweise die Ausrottung der armenischen Minderheit an. Hosfelds Abhandlung widerlegt Punkt für Punkt die Rechtfertigung, die Armenier seien eine Art fünfte Kolonne des russischen Kriegsgegners und mithin ein innerer Feind gewesen. Dabei werden Fakten wie die gewaltsame Linie der armenischen Huntschak-Partei vor der Jahrhundertwende ignoriert, als würden sie den Tatbestand des Völkermords relativieren. Diesen Tatbestand hat der Historiker Hans-Lukas Kieser in der Zeitschrift "Sehepunkte" vom März 2007 wissenschaftlich nüchtern zusammengefasst:
    "1915/16 wurden die osmanischen Armenier zu Fuß oder per Eisenbahn aus ihrem jahrtausendealten Siedlungsgebiet ‚verschickt' (so der Verwaltungsbegriff), nachdem zuvor Angehörige der armenischen Elite landesweit verhaftet worden waren. Männer und Burschen wurden in Ostanatolien meist zu Beginn ... getötet; dasselbe geschah mit den meisten, die Militärdienst taten. Anstatt, wie proklamiert, in Nordsyrien angesiedelt zu werden, gerieten Hunderttausende Überlebende ... in Konzentrationslager, die mangels Versorgung Sterbelager waren. Die dennoch Überlebenden wurden in einer finalen Aktion 1916 massakriert."
    Deutlich unterbelichtet ist bei Hosfeld die Mitverantwortung der deutschen Kriegsverbündeten. Zwar lässt er deutsche Diplomaten und Militärs zu Wort kommen, die das Geschehen von Anfang an vor Augen hatten; dem Widerspruch zu ihrer realen Untätigkeit geht er jedoch nicht nach. Betont wird hingegen, dass deutsche Spendengelder mit Wissen des Außenministeriums an Hilfsorganisationen flossen oder dass deutsche Verantwortliche beim Bau der Bagdad-Bahn armenische Arbeiter unter falschem Namen anstellten:
    "Es gelang ..., die meisten von ihnen ... vor Deportationen zu schützen, obwohl Oberstleutnant Böttrich als Direktor des Feldeisenbahnwesens aus Prestigegründen ... einen Deportationsbefehl persönlich und ohne Absprache mit seinen Vorgesetzten und der deutschen Botschaft unterzeichnet hatte, was man im Auswärtigen Amt als Skandal empfand. Die Sache blieb jedoch, wie (Hilmar) Kaiser zeigt, ohne Folgen und führte ... immer wieder zu Spekulationen über eine aktive und initiative Beteiligung des Deutschen Reichs an diesem Genozid."
    Mit diesem Hinweis wird die deutsche Kollaboration auf den Fall eines einzelnen, gegen die Regierung handelnden Akteurs reduziert. Das ist durchaus irreführend, denn derselbe Hilmar Kaiser, den Hosfeld hier anführt, hat etwa die Briefe des deutschen Offiziers Eberhard Wolfskeel von Reichenburg herausgegeben, der sich mit zynischer Lust an der Niederschlagung der armenischen Verteidigung in Urfa, in Zeitun und am Musa Dagh beteiligte. Und nach Quellenforschungen des Journalisten Wolfgang Gust in seiner großen Studie "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16" zitierte der zivile Direktor der Bagdad-Bahn deutsche Offiziere, "es komme auf das Leben tausender Armenier nicht an". Das Ausmaß deutscher Beteiligung hat dieser Tage Jürgen Gottschlich in seinem Buch "Beihilfe zum Völkermord" dokumentiert. Eine rühmliche Ausnahme bildete Hosfelds Hauptgewährsmann Lepsius. Es fehlt allerdings der Hinweis, dass Lepsius' Dokumente von der deutschen Regierung frisiert worden waren. Dies hat Wolfgang Gust beim Vergleich der von Lepsius veröffentlichten Dokumente mit den Originalen des Auswärtigen Amts ermittelt:
    "Systematisch wurden wichtige Hinweise auf die Politik des Deutschen Reichs in Sachen Völkermord, eine deutsche Mitverantwortung sowie eine Beteiligung beispielsweise deutscher Offiziere an Repressionen gegen die Armenier unterdrückt. Auch waren die Namen wichtiger türkischer Beteiligter am Völkermord in der Regel ausgelassen worden."
    Die Aufarbeitung der Massenmorde in den Istanbuler Prozessen war nur ein Zwischenspiel: Mustafa Kemal, der zunächst die Fakten anerkannte, erließ als Atatürk eine Amnestie für die Täter. Der Schluss von "Tod in der Wüste" schildert die Ermordung des Innenministers Mehmet Talaat durch einen Armenier im Zuge der "Operation Nemesis", über die Rolf Hosfeld vor zehn Jahren ein Buch veröffentlichte, das einen ebenso journalistischen Charakter hat. Wer sich tiefer mit der Materie auseinandersetzen will, halte sich an dezidiert wissenschaftliche Publikationen oder an die Berichte von Zeitzeugen. Die Schriftstellerin und Rechtsanwältin Fethiye Cetin etwa schreibt darüber, dass sie ein von Türken aufgezogenes armenisches Kind ist, die türkische Aktivistin Pinar Selek berichtet von Indoktrination und Leugnung in der heutigen Türkei. Die stärksten deutschen Stimmen sind immer noch die der Schriftsteller Franz Werfel, Edgar Hilsenrath und Armin T. Wegner. Dieser beobachtete das Geschehen als Sanitätsoffizier und gab seinen Erlebnissen einen expressionistischen Ausdruck:
    "Da lagst du, allein unter Tausenden, die mit dem Rauch ihrer Zelte die Ebene füllten, aus der die Wolke der Fieberdünste aufstieg ... Würdest du deine Augen aufgeschlagen haben, du müsstest mich für einen von jenen halten, die gekommen waren, den schmerzlichen Rest deines Lebens zu vergiften ... Ich aber sah dich ... an das Bündel gelehnt, auf dem du deine Kinder von Gebirgspaß zu Gebirgspaß bis an den Rand der Wüste geschleppt hattest, von einer Lagerstätte zur andern, ... und trug dieses Bild mit mir hinüber in das Leben türkischer Zeltlager ... um es nie mehr zu vergessen."
    Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. Verlag C.H.Beck, 287 S., € 24,95