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Volker Löschs "Nathan der Weise" in Bonn
Westliche Toleranz auf dem Prüfstand

Dieses Mal stellen zwölf muslimische Jugendliche den Bürgerchor in Volker Löschs Inszenierung. Mit seinem "Nathan, der Weise" geht er bis an die Grenzen der politischen Korrektheit, dringt tief in die Grauzonen der Toleranz vor. Und regt damit zur Kommunikation und Verständnis an - mehr kann ein Theater nicht leisten, findet die DLF-Rezensentin.

Von Dorothea Marcus | 14.02.2016
    Der Theaterregisseur Volker Lösch
    Theaterregisseur Volker Lösch inszeniert "Nathan der Weise" in Bonn. (dpa / picture alliance / Volker Hartmann)
    Wo soll das noch enden. Die Terroranschläge. Die arabischen Männergruppen. Kann man sich mit Kindern überhaupt noch auf die Straße trauen, wenn man in der Salafistenhochburg Bonn wohnt, aus der zehn Prozent der ausgereisten IS-Kämpfer kommen?
    Der Schauspieler Glenn Goultz erhebt sich als Lehrer mitten aus den Zuschauerreihen und spricht aus, was viele denken. Auf der Bühne wartet schon seine Schulklasse: Zwölf muslimische Bonner Jugendliche hat Regisseur Volker Lösch diesmal als Bürgerchor gefunden, sechs Frauen, sechs Männer. Es sind wache, sympathische, coole Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation aus Syrien, Iran, der Türkei. Sie haben ihre Texte selbst geschrieben, sprechen sie aber nie einzeln.
    Als der Lehrer sie mit sogenannten westlichen Werten, Huntingtons These vom Kampf der Kulturen und Reclam-Heften von "Nathan dem Weisen" auf den rechten Weg bringen will, werden sie wütend:
    "Abgesehen davon, dass ich schon mal von Rechtsradikalen zusammengeschlagen wurde, fällt mir dieser bürgerliche Rassismus auf, der immer mehr stattfindet. Du hast aber schnell Deutsch gelernt! He, Bürger pass' auf, jeder könnte Terrorist sein. Wenn ich meine Tasche einen Meter von mir wegstelle – na, was hat der denn jetzt vor? Irgendwann war mal der Hipsterbart in. Ich wurde an einem Tag dreimal von der Polizei angehalten. Was ist denn das Problem? Sie erscheinen auffällig."
    Reclam-Hefte werden zurückgepfeffert
    Und während sie dem Lehrer noch die Reclam-Hefte zurückpfeffern, bricht mit einer riesigen Explosion die Schulklasse entzwei, der Putz bröckelt. Wie ein Keil wird ein großes, gelbes Reclam-Heft in die Klasse getrieben, auf dem die Hauptfiguren von "Nathan der Weise" ein Stillleben bilden, bewacht von einem westlichen Soldaten. Die letzte Insel der Aufklärung ist nur noch mit Waffen zu verteidigen: ein ironisches Bild des angstvollen, pseudotoleranten Westens. Ironisch deklamiert wird auf gelbem Grund nun die Handlung von "Nathan der Weise" abgespult.
    "Verzeiht. Was Jude? Dass ich mich untersteh, euch anzureden. Ich heiße Nathan, bin des Mädchens Vater, das eure Glut ... Du Jude bist mir gar nichts schuldig. Wusst ich denn, dass ich das Mädchen eure Tochter war? Wenn ihr hier nicht fremd und gefangen wäret ... sagt, womit kann man euch dienen? Mit nichts."
    Immer wieder unterbrechen aktuelle Kommentare der Schüler die Lessing-Szenen. Spannend wird es etwa, wenn es um Juden geht. Als der Lehrer ein Israel-T-Shirt entblößt, berichten jene Muslime, die so sympathisch herüberkamen, auf einmal freimütig vom eigenen Antisemitismus – so komplex eben ist die heutige Lage.
    Volker Lösch geht an die Schmerzgrenzen der politischen Korrektheit. Es gelingt mit seinem Bürgerchor ein authentischer Blick in die reale Gedankenwelt liberaler, junger Muslime. Doch auch vor radikal-islamistischen Glaubenssätzen wird kein Halt gemacht, sie werden einem abwesenden Schüler in den Mund gelegt. Zugleich wird spielfreudig mit Klischees hantiert.
    Da zucken die jungen Bonner zu coolstem Arab-Pop in der Disco, erzählen Islam- und Judenwitze, da verwandeln sie sich in IS-Primaten mit Rauschebärten und schneiden Plastikköpfe ab. Und immer wieder wird auch von echten Maximen ihres muslimischen Glaubens gesprochen: das Almosen. Der Engelsglaube. Der Kampf darum, ein besserer Mensch zu werden. Beeindruckend ist auch ein echtes, ganz unironisch durchgeführtes muslimisches Gebet.
    Lehrer argumentiert zunehmend rassistisch
    Zunehmend rassistisch argumentiert dagegen der Lehrer und inszeniert schließlich Lessings Ringparabel um: Der Sultan, der bei Lessing ein gütig ergriffener Herrscher ist, will hier nur an das Geld des Juden Nathan. Schließlich sind islamische Herrscher nun mal korrupt. Da protestiert der muslimische Bürgerchor, um sich sogleich mit bunten Burkas zu behängen und das Abendland zu islamisieren.
    Am Ende liest der Lehrer dann eine reale Umfrage von Bonner Theaterbesuchern vor: Gehört der Islam zu Bonn? Erschreckend, ängstlich, rassistisch – aber auch zuweilen zutiefst nachvollziehbar sind die Antworten. Es ist eben alles nicht so einfach.
    Volker Lösch ist ein wichtiger, komplexer Abend gelungen, der vielen Seiten Gehör verschafft und tief in die Grauzonen der Toleranz eindringt. Er könnte zu Kommunikation und besserem Verständnis beitragen. Mehr kann Theater nicht leisten.