Donnerstag, 25. April 2024

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Volker Ullrich
"Acht Tage im Mai"

Adolf Hitler ist tot, doch der Krieg dauert an. Der Historiker und Publizist Volker Ullrich schildert die letzten Tage des NS-Regimes. Dabei verbindet er unzählige zeitgleich stattfindende, dabei aber oft gegenläufige Ereignisse zu einer Gesamtdarstellung.

Von Marcus Heumann | 09.03.2020
Hintergrundbild: "Gebt mir fünf Jahre und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen" steht in Deutsch und Englisch auf einem Schild vor einem Trümmerberg, ein Mann liest das Schild, schwarz-weiß-Aufnahme. Vordergrund: Buchcover
Ullrich beschreibt Chaos, Gewalt und Hoffnung in den letzten Kriegstagen (AFP / C.H. Beck Verlag)
"Zwischen 21.00 und 22.25 Uhr kündigte der Reichssender Hamburg mit seinen Nebensendern Flensburg und Bremen dreimal eine wichtige Nachricht an, unterbrochen jeweils durch Ausschnitte aus Wagners Opern ‚Tannhäuser‘, ‚Rheingold‘ und ‚Götterdämmerung‘ sowie aus Anton Bruckners Siebter Symphonie. Dann brach die Musik plötzlich ab, ein Trommelwirbel erklang und die aufgeregte Stimme eines Sprechers ließ sich vernehmen:
‘Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzuge gegen den Bolschewismus kämpfend für Deutschland gefallen ist.‘
Nicht nur, was den Zeitpunkt, sondern auch was die Umstände von Hitlers Tod betraf, wurde die deutsche Öffentlichkeit […] bewusst falsch informiert. Damit sollte verschleiert werden, dass sich der Diktator durch Selbstmord seiner Verantwortung entzogen hatte."
Diese Passage aus Volker Ullrichs neuem Buch, Stichtag 1. Mai 1945, darf als typisch stehen für die Art und Weise, in der sich der Autor seines ambitionierten Themas annimmt.
Keine "Stunde Null"
Eine gültige Untergangsgeschichte des Hitlerstaates zu schreiben, und sei es auch nur wie hier eine Chronik seiner letzten acht Tage, ist schon durch die Ungleichzeitigkeit der Geschehnisse im zerfallenden, sogenannten "Großdeutschen Reich" und den von ihm besetzten Gebieten eine besondere Herausforderung: Denn die eine, viel beschworene deutsche "Stunde Null" - es gab sie nicht.
Viele Publizisten und Historiker sind dem begegnet, indem sie bewusst fragmentarisch und ungeordnet Dokumente, Briefe oder Tagebuchnotizen aus jenen Tagen nebeneinander stellten, so etwa Erich Kuby schon 1956 in seiner Dokumentensammlung "Das Ende des Schreckens" oder Walter Kempowski im letzten Band seines "Echolot"-Projekts 2005. Volker Ullrich aber versucht - und das macht das Besondere seines Buches aus - solche historischen Versatzstücke zu einer Gesamtdarstellung zu verbinden. Dabei bleibt die letzte Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz in Flensburg ein Fixpunkt der Chronologie:
"Er trägt die Hauptverantwortung dafür, dass der Krieg auch nach dem Selbstmord des Diktators noch um eine volle Woche verlängert wurde. Sein Konzept – Teilkapitulationen im Westen bei Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion – sollte nicht nur möglichst vielen Zivilisten und Soldaten die Flucht hinter die britischen und amerikanischen Linien ermöglichen, sondern auch Zwietracht säen im Lager der Anti-Hitler-Koalition."
"Frühling, in dem der Frieden kam"
Tatsächlich gelingt Ullrich - ausgehend von Flensburg - ein historisches Panoramagemälde. Mit für einen geschichtlichen Aufriss seltener Eleganz verknüpft er die wechselnden Schauplätze und Akteure, mitunter auch durch harte Kontrastierung. Am 1. Mai beispielsweise sind Themen und Schauplätze seiner Chronologie unter anderen der Berliner Führerbunker, aus dem die letzten Getreuen Hitlers zu fliehen versuchen, ebenso wie der Massensuizid im vorpommerschen Demmin, den hunderte von Einwohnern aus Angst vor Vergeltung durch die einrückende Rote Armee begehen.
Der 1. Mai 1945 ist auch jener Tag, an dem die aus Moskau eingeflogenen KPD-Exilanten der "Gruppe Ulbricht" nach Berlin zurückkehren, während im schwedischen Exil den jungen Sozialdemokraten Willy Brandt die Meldung vom Tod Hitlers erreicht und - ebenfalls in Stockholm - die Schriftstellerin Astrid Lindgren in ihr Tagebuch notiert:
"Gestern war es kalt und regnerisch, aber heute ist Frühling. Ein ganz besonderer Frühling, nicht irgendein Frühling, sondern der Frühling, in dem der Frieden kam. Himmel, wie herrlich!"
Den Titel des Buches, der zugleich seinen Zeitrahmen benennt, muss man nicht allzu wörtlich nehmen - erfreulicherweise. Denn, wie Ullrich selbst konstatiert:
"Die Ereignisse, von denen hier erzählt wird, haben Ursachen, die in die Vergangenheit zurückreichen, und Folgen, die in die Zukunft weisen. Die Darstellung überschreitet daher immer wieder die zeitlichen Grenzen der acht Tage – teils nach hinten und teils nach vorne. Und ebenso müssen die Personen, die in den Blick treten, in ihrem Werdegang und ihrer Entwicklung porträtiert werden."
Das Ende des NS-Regimes
Zuweilen gerät die Lektüre durch die Vielzahl von Namen und Kurzbiografien etwas anstrengend, etwa, wenn die Partei- und Wehrmachts-Elite aus den noch unter deutscher Kontrolle stehenden Territorien in Flensburg zum Rapport antritt. Dennoch ist die Skizzierung der Lebenswege solcher Protagonisten des Regimes ein wertvolles Element des Buches, zum Beispiel wenn Ullrich den Mythos des Hamburger Gauleiters und Reichsstatthalters Karl Kaufmann demontiert. Dieser versuchte noch am 3. Mai, sich mittels einer Rundfunkansprache in letzter Minute als "Retter von Hamburg" vor der Geschichte reinzuwaschen:
"Mir gebietet Herz und Gewissen, in klarer Erkenntnis der Verhältnisse und im Bewusstsein meiner Verantwortung unser Hamburg, unsere Frauen und Kinder, vor sinn- und verantwortungsloser Vernichtung zu bewahren. […]. Das Urteil über meinen Entschluss überlasse ich getrost der Geschichte und Euch."
"Kaufmanns Kalkül […] schien aufzugehen. In der Nachkriegszeit sollte die 'Legende vom guten Gauleiter', der sich von einem Gefolgsmann Hitlers zum Rebellen gegen dessen Vernichtungswut gewandelt habe, kräftig ins Kraut schießen und einer weiteren Legende den Boden bereiten: dass Hamburg in den Jahren der Diktatur eine ‘Insel relativer Vernunft’ innerhalb der braunen Barbarei gewesen sei."
Diese Gesamtdarstellung wartet nicht mit spektakulären neuen Erkenntnissen oder bislang unbekannten Zeitzeugen auf; vielmehr ist "Acht Tage im Mai" der geglückte Versuch, durch die Montage mehr oder minder bekannter Quellen Chronik und Stimmungsbild in einem zu liefern. Nur selten einmal gerät dabei ein thematischer oder örtlicher Übergang allzu holprig, doch selbst wenn es hier und dort im narrativen Gebälk knirscht, schmälert das nicht den Gesamteindruck einer ebenso quellen- wie perspektivreichen Monografie.
Volker Ullrich: "Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches",
C.H. Beck, 320 Seiten, 24 Euro.