Samstag, 20. April 2024

Archiv

Volksbühne-Intendant Chris Dercon
"Wir wollen das Ensemble wieder aufbauen"

Er habe vorerst keine gemeinsame Basis mit dem langjährigen Volksbühne-Regisseur René Pollesch gefunden", sagte neue Intendant der Berliner Volksbühne, Chris Dercon, im DLF. Auch andere Haus-Künstler hätten nach dem Intendanten-Wechsel erst einmal abgewartet. Doch er wolle genau solche Typen, die "in so einem Mehrspartenhaus arbeiten können".

Chris Dercon im Corsogespräch mit Alexander Kohlmann | 25.05.2017
    Chris Dercon, Intendant der Volksbühne Berlin
    "Il faut cultiver son jardin" - Chris Dercon liebt dieses Voltaire-Zitat (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    In der vergangenen Woche hat Chris Dercon seinen ersten Spielplan vorgestellt - die Shooting Stars der deutschen Theaterszene sind kaum zu finden. Im Corsogepräch mit Alexander Kohlmann beantwortet Chris Dercon zuerst die Frage, ob diese nicht kommen wollten - oder kommen sollten?
    Chris Dercon: Wir wollten gerne, aber ich glaube, dass diese berühmten Stars nicht mit uns arbeiten wollten. Wir haben auch immer die Tür offen gehalten für das Repertoire der Volksbühne. Wir haben im Dezember den vier Hausregisseuren Marthaler, Pollesch, Fritsch und Castorf einen offiziellen Brief geschrieben, wir haben Signale abgegeben, was könnte von ihrem Repertoire übergehen in unser Repertoire.
    "Alles von Pollesch - und nicht nur auf der Bühne"
    Alexander Kohlmann: Wenn Sie jetzt Frieden schließen würden und es gäbe eine Stunde Null und Sie dürften sich eine Produktion aussuchen aus dem Haus drüben, welche würden Sie gerne nehmen? Sie haben einen Wunsch frei, es gibt keinen Konflikt, der da draußen lauert.
    Dercon: Ich würde mir gerne die ganze Serie nehmen von Pollesch, um die gleiche Zeit zu bearbeiten in Form einer Art Netflix-Serie. Damit es nicht nur auf der Bühne zu sehen ist, sondern auch in einer Art Fernsehproduktion. Weil Pollesch macht schon Filme, die direkt oder indirekt auf seinen Stücken basieren. Also, ich denke nicht im Sinne von "Loose Pieces", Einzelstücken. Ich denke dann eher in die Richtung: Alles von Pollesch - und nicht nur auf der Bühne sondern auch im Web. Ich glaube, dass ich das sogar auch mit ihm einmal kurz besprochen habe in der Kantine, aber wir haben keine gemeinsame Basis gefunden. Mein Top-Stück in dieser Reihe wäre dann "Kill my darlings".
    Kohlmann: Spricht da auch ein wenig Ihr Blick als Museumsmann, dass man es schafft, im Theater einen Künstler einmal so ganz zu zeigen. Eigentlich ist das Theater ja die Kunst, wo die Anfänge meistens schon verschwunden sind, wenn der Künstler seinen großen Durchbruch hatte.

    Dercon: Ja, das interessiert mich stark, aber das geschieht nicht nur in der bildenden Kunst. Das kennt man aus Film und man kennt es auch aus Tanz. Und wenn ich sage: die ganze Reihe von Pollesch - dann hofft man natürlich auch, dass, wenn man die ganze Reihe sieht, man vielleicht einen anderen Einblick bekommt in die Arbeit von Pollesch. Aber die Tür steht offen. Und wer weiß, nachdem Prof. Hegemann verkündet hat, in der Morgenpost, dass es gehen könnte, dass es technisch realisierbar ist, vielleicht gibt es da neue Hoffnung. Ich bin jemand, der eigentlich ein Optimist ist.
    "Wir wollen das Ensemble wieder aufbauen"
    Kohlmann: Neben den Regisseuren ist ja das Ensemble sozusagen der "Heilige Gral" und Kern des deutschen Stadttheaters, als eine Gruppe von Menschen, die sich gemeinsam über Jahre entwickeln können durch das Zusammensein an einem Ort. Nun wird es bei Ihnen ja zunächst einmal gar kein Ensemble geben und man fragt sich, warum? Egal wie die Diskussion in den Medien geführt worden ist, stapeln sich doch da draußen bestimmt die Bewerbungen der Schauspieler?
    Wir haben noch länger mit Chris Dercon gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Dercon: Am Anfang war es wirklich so, dass niemand wusste, ob ich hier noch arbeiten kann. Wissen Sie, wenn Sie ein Familienleben haben und Sie haben eine professionelle Karriere, da werden Sie sich doch nicht anmelden bei jemanden, wo man nicht weiß, ob er überhaupt noch da ist. Also, das hat alles ein bisschen gedauert, ich glaube, dass viele gedacht haben, wir warten ab, sogar die Schauspieler, Regisseure, von denen wir wissen, dass sie sympathisch sind für dieses Mehrsparten-Haus. Und wir warten ab und wir sind sicher, dass wir ins Gespräch gehen mit diesen Menschen und mit diesen Künstlern. Und wir wollen das Ensemble wieder aufbauen. Ganz langsam. Und auch weil es ein Mehrsparten-Haus ist, suchen wir uns natürlich genau die Typen Schauspieler aus oder die Typen Regisseure, die auch mit in so einem Mehrspartenhaus arbeiten können.
    Facettenreiches Sprechtheater
    Kohlmann: Sie sagen jetzt immer Mehrspartenhaus, ich bin jetzt ein bisschen überrascht, weil die Volksbühne doch eigentlich gar kein Mehrspartenhaus ist, sondern ein Sprechtheater. Oder habe ich da irgendetwas verpasst?
    Dercon: Dann glaube ich, dass Sie nicht alles gesehen haben von der Volksbühne. Per Definition ist es die Volksbühne. Und es steht nirgendwo, dass die Volksbühne ein konventionelles Sprechtheater ist. Jetzt reden ganz viele über ein konventionelles Sprechtheater. Dann sage ich immer, was ist das, ein konventionelles Sprechtheater? Ist Herbert Fritsch konventionelles Sprechtheater? Sind die Gesänge, die Musicals, die wunderbaren Varieté-Shows von Christoph Marthaler, ist das dann Sprechtheater? Oder sind die ganz lauten Stücke, wo jetzt sogar in französisch gesprochen wird, ist das konventionelles Sprechtheater? In der Volksbühne und in anderen Theatern wird gesprochen, auf verschiedene Art und Weise und so wollen wir das auch halten.
    "Das Publikum geht anders mit Texten um"
    Kohlmann: Unter Castorf war ja in der Volksbühne die Auseinandersetzung mit monumentalen Literaturklassikern ein ganz wesentlicher Bestandteil des Programms: Dostojewski und Co. Interessiert Sie so etwas erstmal gar nicht - oder kommt das zurück? Viele Beobachter vermissen ja genau diese großen Literaturklassiker im Spielplan, die gespiegelt werden auf ganz vielen verschiedenen Ebenen?
    Chris Dercon: Ich weiß nicht, was die Leute genau da vermissen, weil die großen Klassiker, die gespielt werden, die sind überschrieben, die sind zerhackt. Wir werden sicherlich mit Texten arbeiten, aber muss es immer wieder Professor Bernhardi sein? Muss es immer wieder Ibsen sein? Vielleicht gibt es auch andere Möglichkeiten, mit Text zu arbeiten. Ich glaube, dass man heute ganz sorgfältig damit umgehen muss, was Text ist und was man anbieten soll an Text. Weil das Publikum sich geändert hat. Das ändert sich noch immer. Und das Publikum geht anders mit Texten um. Ich glaube, dass zum Beispiel Beckett etwas anbietet, was das jüngere Publikum kennt aus Tweets und Re-Tweets and "I likes" and "I don't likes". Ich glaube, dass die Sprache von heute sich ziemlich geändert hat. Wenn zum Beispiel Kate Tempest rappt, dann denke ich, wow, jetzt gehe ich auf YouTube, was sie da macht mit Shakespeare, das ist absoluter Wahnsinn und das interessiert uns sehr, absolut.
    "Il faut cultiver son jardin"
    Kohlmann: Wenn Sie abends nach Hause kommen, aus dem ganzen Wahnsinn hier, was lesen Sie privat?
    Chris Dercon: Oh, dann lese ich nichts. Dann arbeite ich in meinem Garten. Voltaire hat mal gesagt, "Il faut cultiver son jardin" - und das liebe ich.
    Kohlmann: Wenn wir jetzt da vorne durch die halb runtergelassene Gardine auf die Volksbühne gucken, wie sie da steht, im Moment noch als eines der, vielleicht als das wichtigste Sprechtheater der Welt. Wo sehen Sie das Haus in fünf Jahren?
    Dercon: Als eines der wichtigsten Theater in Europa.
    Kohlmann: Und in zehn?
    Dercon: Ich weiß nicht, ob ich in zehn Jahren noch hier bin. Ich habe einen Vertrag für fünf Jahre - und das werde ich mit unserer Truppe so gut wie möglich machen. Das ist die Berufung. Und das macht die Sache spannend. Und das hält uns am Leben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.