Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Volksheld und Symbol der Unabhängigkeit Lateinamerikas

Er wird "El Libertador" – der Befreier – genannt. In der Geschichte von Süd- und Zentralamerika spielt der vor 175 Jahren verstorbene Revolutionär und Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar eine zentrale Rolle. Es gelang ihm, die spanische Kolonialherrschaft zu brechen und diverse Staaten zu gründen, in denen er selbst mehrfach zum Präsidenten gewählt wurde und sich schließlich zum Diktator aufschwang. Sein Traum von einem geeinten lateinamerikanischen Kontinent blieb jedoch unerfüllt.

Von Christian Ulmcke | 17.12.2005
    "Verflucht noch mal!" seufzte der General. "Wie komme ich aus diesem Labyrinth heraus!"
    Er betrachtete den Raum mit der Hellsicht seiner Vortage und sah zum ersten Mal die Wahrheit: das letzte geborgte Bett, den schäbigen Waschtisch, dessen von Geduld getrübter Spiegel ihn nicht noch einmal zeigen würde, die herzlose Hast der achteckigen Uhr, die voranpreschte bis zu dem unausweichlichen Stelldichein seines letzten Nachmittags am 17. Dezember um ein Uhr und sieben Minuten. "

    So beschreibt der Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez die letzten Minuten des lateinamerikanischen Freiheitskämpfers Simón Bolívar in seinem historischen Roman "Der General in seinem Labyrinth". In seinen nicht einmal fünfzig Lebensjahren hat der 1783 in Venezuela geborene Bolívar die politische Topographie seiner Heimat grundlegend verändert.

    "Ich schwöre bei meiner Ehre und ich schwöre vor meinem Vaterland, dass ich meinem Arm keine Ruhe und meiner Seele keine Pause gönnen werde, bis die Ketten gebrochen sind, die uns nach dem Willen des spanischen Königreiches erdrücken."

    Diesen kämpferischen Schwur leistet der junge Bolívar, der als Sohn einer wohlhabenden Kreolenfamilie selbst zu den Privilegierten des spanischen Kolonialsystems zählt, angeblich auf dem Aventinus-Hügel bei Rom.

    "Damals war er gerade zwanzig geworden, erst kürzlich verwitwet und reich; die Krönung von Napoleon Bonaparte hatte ihn überwältigt, er rezitierte auswendig seine Lieblingspassagen aus Rousseaus Emile und Nouvelle Heloise, und er war zu Fuß, den Rucksack auf dem Rücken, mit seinem Lehrer als Führer durch ganz Europa gereist."

    Der Lehrer ist Simón Rodriguez, Philosoph und utopischer Sozialist, und seine Weltanschauung prägt den jungen Bolívar ebenso wie die Werke der Aufklärer.

    Als er 1807 nach Venezuela zurückkehrt, schließt Bolívar sich der Widerstandsbewegung an. Der erste Versuch, ein unabhängiges Venezuela zu erkämpfen, scheitert mit der Kapitulation Francisco de Mirandas. Bolívar flüchtet nach Cartagena. 1813 übernimmt er ein militärisches Kommando in Neu Granada und führt eine Armee nach Venezuela. Diese Kampagne führt zur Gründung der zweiten venezolanischen Republik und bringt Bolívar den Zunamen El Libertador. Um die spanische Kolonialherrschaft zu brechen, geht "der Befreier" jedoch über Leichen; er proklamiert den Guerra a Muerte, den Krieg bis zum Tode, auch der spanischen Zivilbevölkerung gegenüber.

    "Spanier und Bewohner der Kanarischen Inseln, ihr werdet sterben, auch wenn ihr neutral seid, es sei denn, ihr unterstützt aktiv die Befreiung Amerikas. Amerikaner, ihr werdet leben, auch wenn ihr fehl gegangen seid."

    1819 vereinigt Bolívar Venezuela und Kolumbien zur "Republik Groß-Kolumbien", deren Staatsoberhaupt er wird. Drei Jahre später tritt Ecuador der neuen Republik bei und 1825 wird Bolívar Präsident von Peru und des nach ihm benannten Bolivien. 1826 beruft er den ersten panamerikanischen Kongress ein. Bolívars Ziel ist die Gründung eines lateinamerikanischen Staatenbundes, aber die Beschlüsse des Kongresses bleiben weit hinter seinen Erwartungen zurück.

    1828 erklärt sich Bolívar zum Diktator - angeblich als letztes Mittel zur Rettung der durch nationalistische Bestrebungen im Zerfall begriffenen Republik Groß-Kolumbien.

    Kurz darauf wird in Bogotá ein Anschlag auf ihn verübt. Bolívar flüchtet aus dem Fenster und versteckt sich mehrere Stunden in einem schlammigen Flussbett. Obwohl er so den Attentätern entgeht, nimmt er gesundheitlichen und seelischen Schaden. Sein Einfluss sinkt weiter; 1830 tritt er schließlich zurück. Als er wenige Monate später auf dem Weg ins Exil an Tuberkulose stirbt, wird dies zunächst in vielen der von ihm begründeten Staaten als Befreiung gesehen. In einem Aufsatz für The New American Cyclopedia urteilt Karl Marx noch 1858 ungnädig über ihn.

    "Was Bolívar wirklich beabsichtigte, war die Vereinigung ganz Südamerikas zu einer föderativen Republik, deren Diktator er selbst sein wollte. Während er so seinen Träumen, eine halbe Welt an seinen Namen zu heften, vollen Spielraum gab, entglitt die reale Macht rasch seinen Händen."

    In Venezuela jedoch wird Bolívar bereits 1842 wieder als Libertador geehrt. Seine sterblichen Überreste werden in einer prunkvollen Zeremonie in Caracas beigesetzt, und in Kolumbien setzt man ihm das erste von etlichen Denkmälern. Heute gilt er als Volksheld und Symbol der Unabhängigkeit und Freiheit der Völker Lateinamerikas.

    Hugo Chavez, der umstrittene Präsident der Republik Venezuela, sieht sich bewusst in der Nachfolge Bolívars: Er bezeichnet seine Politik als "Bolivarische Revolution" und änderte den Namen des Staates in "Bolivarische Republik Venezuela". Seine Rede am
    15. September 2005 vor der UNO-Vollversammlung gipfelt in der Beschwörung seines Vorbilds:

    "Wir unterstreichen unseren unendlichen Glauben an den Menschen, der heute nach Frieden und Gerechtigkeit dürstet, um als Spezies überleben zu können. Simón Bolívar, Vater unseres Vaterlandes und Anführer unserer Revolution, schwor seinem Arm keine Ruhe und seiner Seele keine Pause zu gönnen, bis Amerika frei sein werde. Gewähren wir unseren Armen keine Ruhe und unseren Seelen keine Pause bis wir die Menschheit gerettet haben."