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Voll Trauer um die Tochter

Jeder kann es wohl nachvollziehen, wenn es heißt, Eltern, insbesondere Mütter, würden über den Verlust eines ihrer Kinder ihr Leben lang nicht hinwegkommen. Darüber denkt die Frau und Mutter in Anna Enquists Roman "Kontrapunkt" nicht nur nach, sondern versucht, sich eine glückliche, unbelastete Erinnerung regelrecht zu erarbeiten.

Von Martin Grzimek | 22.03.2009
    Der Roman "Kontrapunkt" von Anna Enquist ist eines der Bücher, von dem man durchaus schon bei Beginn des Lesens das Ende kennen sollte, um das Geheimnis, das in ihm steckt, intensiver nachvollziehen zu können. Denn erst auf den letzten Seiten des Romans werden wir mit dem Ereignis konfrontiert, das der unfassbare Anlass ist, ihn zu schreiben. Eine Frau, zugleich die Erzählerin, erhält an einem schönen Sommertag während ihres Urlaubs in Schweden plötzlich die Nachricht, ihre 27-jährige Tochter sei in Amsterdam auf dem Weg zur Arbeit auf ihrem Fahrrad von einem Lastwagen angefahren worden und dabei zu Tode gekommen. Nach Amsterdam zurückgekehrt, rekonstruiert die Mutter den Schicksalstag mit Hilfe von polizeilichen Protokollen, Fotos und Ausschnitten aus Fernsehnachrichten:

    "Der gelbe Rettungshubschrauber schwebt über dem Platz, landet mitten zwischen der großen Kirche, dem Palast, dem Kriegsdenkmal. Polizisten bilden einen großen Kreis und halten riesige weiße Tücher hoch, um Schaulustigen die Sicht zu nehmen. Ein verbogenes Fahrrad liegt auf der Fahrbahn.

    Die Sonne ergießt sich über die Fassaden, aber es ist noch frisch, es wird ein warmer Tag werden. Die Sonnenstrahlen erwärmen die kunstvoll verlegten unebenen Steine, mit denen der Platz gepflastert ist, streifen die entsetzten Gesichter der Augenzeugen und streicheln das junge Mädchen, das dort liegt, die nackten Beine in der leichten Grätsche des Todes. Es ist halb neun."

    Jeder kann es wohl nachvollziehen, wenn es heißt, Eltern, insbesondere Mütter, würden über den Verlust eines ihrer Kinder ihr Leben lang nicht hinwegkommen. Zumindest ist der Schock darüber so groß, dass es kaum noch möglich erscheint, sich an das Kind zu erinnern, ohne dass alle Gefühle und Bilder von Schmerz und quälender Trauer verzerrt sind. Darüber denkt die Frau und Mutter in Anna Enquists Roman nicht nur nach, sondern versucht, sich eine glückliche, unbelastete Erinnerung regelrecht zu erarbeiten.

    Sie tut dies auf eine ungewöhnliche Art, indem sie nämlich die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach einübt. Vor vielen Jahren hat sie diese Klaviermusik nach ihrem Examen als Konzertpianistin schon einmal gespielt, damals noch mit ihrer kleinen Tochter auf dem Schoß, die besonders die Eingangsmelodie, die sogenannte "Aria", liebte. 30 Jahre später übt sie nun diese Musik erneut ein und schreibt dabei, den 30 Variationen folgend, ihre Gedanken und Erinnerungsbilder an die Tochter in ein Heft. Dies ist der Ausgangspunkt des Romans, eine stille Szene des Beginnens und des Wunsches, mit ihrer Trauer fertig zu werden.

    "Die Frau mit dem Bleistift las über den Tisch gebeugt in einer Taschenpartitur der Goldberg-Variationen. Der Bleistift war aus edlem, schwarzem Holz und hatte eine Kappe aus schwerem Silber, in der sich ein Anspitzer verbarg. Der Bleistift schwebte über einem leeren Heft. Neben der Partitur lagen Zigaretten und ein Feuerzeug. Und ein kompakter kleiner Metallaschenbecher stand auf dem Tisch, das funkelnde Geschenk eines Freundes. Die Frau hieß einfach nur 'Frau', vielleicht auch 'Mutter'. Es gab Probleme mit der Benennung. Es gab viele Probleme. Im Bewusstsein der Frau waren es vorrangig Probleme mit der Erinnerung."

    In der namenlosen Frau, so wie sie sich und ihre Umgebung im Laufe des Romans beschreibt, ist unschwer das Alter Ego der niederländischen Autorin zu erkennen. Anna Enquist heißt eigentlich Anna Widlund-Broer und wurde 1945 in Amsterdam geboren. Sie hatte zunächst die Musikerlaufbahn eingeschlagen und am Königlichen Konservatorium in Den Haag das Examen als Konzertpianistin abgelegt. Dann studierte sie Psychologie und arbeitete nach dem Abschluss als Psychotherapeutin. Sie war schon über 40, als sie mit dem Schreiben begann, widmete sich aber erst nach dem Erfolg ihres ersten Romans, der 1995 unter dem Titel "Ein Meisterstück" erschien, ganz der Literatur. Bislang sind ein halbes Dutzend Gedichtbände von ihr erschienen und beinahe ebenso viele Romane, für die sie mehrere Preise erhielt.

    Dann verloren Anna Enquist und ihr Mann, der schwedische Cellist Bengt Widlund, am 3. August 2001 ihre zu dieser Zeit 27-jährige Tochter Margit. So wie das Kind der Frau in dem Roman "Kontrapunkt" starb auch Margit bei einem Verkehrsunfall auf dem Dam-Platz in Amsterdam. Ein Lastwagenfahrer hatte die Radfahrerin beim Rechtsabbiegen im toten Winkel des Rückspiegels nicht sehen können und sie überrollt. Ein offener Brief der Schriftstellerin bewirkte daraufhin, dass zwei Jahre später in den Niederlanden durch eine gesetzliche Verordnung die Anbringung eines zusätzlichen Spiegels an Lastwagen Pflicht wurde. Für Anna Enquist wird dies nur ein schwacher Trost gewesen sein.

    Im Jahr 2004 versuchte sie, den plötzlichen Tod der Tochter in einer Gedichtsammlung mit dem Titel "Die Zwischenzeit" poetisch zu verarbeiten. In dem schmalen Bändchen stehen Zeilen wie "Ja ich weiß sie ist weg / aber vielleicht wacht sie / doch überall über mir deshalb" oder, resignierend und knapp, "Gib auf. Lass es gehen." Der auf den Lyrikband folgende, 2005 erschienene und äußerst erfolgreiche Roman "Letzte Reise" spielt im 18. Jahrhundert und befasst sich mit der viktorianischen Zeit und dem Leben des Entdeckers Captain James Cook, gespiegelt in den Gedanken und Erlebnissen seiner Frau Elizabeth. Ein auf den ersten Blick fernliegendes Thema also, aber auch in diesem historischen Roman versucht Anna Enquist erneut, den Tod ihrer Tochter zu verarbeiten, allerdings auf rein fiktionaler Ebene. Diesmal geht es um die 10-jährige Elly, Cooks Tochter, die am 9. April 1771 von einer Pferdekutsche angefahren wird. Als James Cook von seiner ersten Weltreise zurückkommt, berichtet ihm seine Frau darüber. In der für Anna Enquist typischen Erzählweise mischen sich die Gedanken der Mutter mit der beobachtenden Imagination der Autorin.

    "Ein Pferd schnaubte ohne Unterlass. Menschen kamen in den Garten gerannt und riefen, doch ich stand schon auf der Straße. Als erstes sah ich das Spielzeugpferd unversehrt mitten auf der Fahrbahn stehen, aber dann blickte ich zu meinen Füßen hinunter, meinen bloßen Füßen, die Holzpantinen hatte ich wohl abgestreift, keine Haube hatte ich auf, nein - Elly lag am Boden. Keine Verletzungen, heil. Einen Moment lang hatte sie Erleichterung verspürt: Wir sind davongekommen, es ist nichts! Doch das Kind war weiß und bewegungslos."

    Den ganzen Roman hindurch wird Elly leitmotivisch immer wieder in Erinnerungsbildern auftauchen, stets begleitet von der Wehmut Elizabeth Cooks, deren Schicksal es war, nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihre fünf Söhne zu überleben. Gegen Ende des Romans "Letzte Reise" taucht auch ein Organist auf und spielt zum Gedenken an den 1780 verstorbenen Sohn Nathaniel auf einem Cembalo die Bachschen "Clavierübungen", die erst ein Jahrhundert später den Titel Golberg-Variationen erhielten. Die nun folgende, diese Musik und ihre Wirkung beschreibende Passage, klingt wie eine Skizze zu Anna Enquists neuem Roman "Kontrapunkt", in dem sie sich dann ausschließlich und ohne jede historische oder fiktionale Verkleidungen dem Bach'schen Meisterwerk und der Erinnerung an ihre Tochter widmen wird.

    "Es erklang noch kein einziger Ton, doch das Stück hatte schon begonnen. Langsam entfaltete sich das Lied über einer ruhig fortschreitenden Basslinie, die die dicken Saiten mit hörbarem Schmalzen erzittern ließ. Ist das eine Klage, dachte Elizabeth, ein Klagelied? Die absteigenden Melodielinien ließen das vermuten, doch immer wieder wurden die Seufzer in der festen Umarmung der unter ihnen liegenden Akkorde aufgefangen. Ein Frage- und Antwortspiel. Eine Stimme, die sich aussprach, die Stellung nahm, die schlicht und einfach erzählte, wie es war. Dann geschah das Wunder. Aus der Tiefe schritt die nun von regelmäßigen, sicheren Tönen gebildete Melodie stetig nach oben, gestützt von dem fest mitkletternden Bass. Elizabeth kam es vor, als fliege ein Fenster auf und gebe den Blick auf eine unendliche Weite frei. Dort könnte sie gehen mit erhobenem Kopf und ohne Tränen, in dem Bewusstsein, dass ihr Sohn diese Musik geliebt hatte. Bei jedem Schritt würde sie ihn vermissen. Sie würde diesen Schmerz ertragen können, weil dieses Lied bestand."

    Johann Sebastian Bach schrieb seine "Aria mit verschiedenen Veränderungen", wie er es nannte, als Auftragsarbeit für Herrmann Freiherr von Keyserlingk, den russischen Gesandten am chursächsischen Hof in Dresden. Keyserlingk bestellte bei Bach "einige Klavierstücke, die so sanft und munteren Charakters wären, dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte." Ein Schüler Bachs, Johann Gottlieb Theophilus Goldberg, sollte dem Freiherrn diese Klavierstücke vorspielen. Daher kommt der Name Goldberg-Variationen. Für jeden Pianisten sind sie eine Herausforderung, derzeit kann man sie in knapp 400 Interpretationen hören, von denen die wohl bekannteste die des Kanadiers Glenn Gould ist.

    Mit ihrem Roman "Kontrapunkt" hat Anna Enquist diesen vielen Interpretationen nun eine weitere hinzugefügt, auch wenn man sie nicht hören kann. "Mama, das ist unser Lied", hatte die Tochter, als sie noch ein Kind war, zu der Frau im Roman bei einem Konzertbesuch gesagt, bei dem die Goldberg-Variationen gespielt wurden. Dadurch war die Musik für immer mit der Tochter verbunden und nach deren Tod für die Frau ein Tabu, weil sie von schmerzlichen Erinnerungen überlagert war. So hadert die Frau zuerst mit sich, als ihr wieder einmal die Partitur in die Hände gerät.

    "Schau dir doch die Goldberg-Variationen an. Du spielst die 'Aria'. O nein, dachte die Frau, nie mehr werde ich die 'Aria' spielen. Na gut, du hast die 'Aria' gespielt, Vergangenheitsform, dieses ruhige, tragische Lied. Es ist eine Sarabande, ein feierliches Tempo und Nachdruck auf jeder zweiten Zählzeit, ein langsamer, vielleicht sogar gravitätischer Tanz. Zum Schluss hin vervielfachen sich die Noten, aber der ernste Rhythmus geht nicht verloren. Du hast der Versuchung, dann leiser, flüsternd zu spielen und mit einem kaum noch hörbaren Seufzer zu enden, nicht nachgegeben. Nein, auch damals schon hast du diese tristen Tongirlanden über der ruhig fortschreitenden Basslinie anschwellen lassen, hast nichts überhastet, sondern eher noch unmerklich noch ein wenig verzögert - kraftvoll, ungebrochen. Bis zum Schluss.

    Die Erinnerungen waren zu blassen Gemeinplätzen geworden, die niemandes Interesse würden wecken können. Sie konnte nichts über die Tochter erzählen, sie kannte die Tochter nicht. Dann schreib doch darüber!, dachte sie wütend. Auch die Umgehung ist Bewegung, auch das Negativ zeigt ein Bild."

    So überredet sich die Frau dazu, die Musik zu spielen und sich an ihr Kind zu erinnern. In den 30 Kapiteln des Romans wird jede einzelne der Variationen genauestens besprochen, aus musiktheoretischer, spieltechnischer oder historisch-biographischer Sicht. Mit der Einübung der einzelnen Stücke und den entsprechenden Kommentaren, die die Frau in ihr Heft schreibt, gelingt es Anna Enquist, dieses Meisterwerk der Klavierliteratur sinnlich nachvollziehbar zu machen, weil sie uns gewissermaßen an ihrem Einüben teilnehmen lässt. Wir erfahren dabei, was zum Beispiel ein Kanon ist, wie er sich von der Fuge unterscheidet, wie es scheinbar für unser Ohr unmöglich ist, zwei Melodien gleichzeitig zu hören, und warum Bach die Form des Kanons so sehr liebte und als grundlegende Variation in seine Kompositionen aufgenommen hat. Die Frau spielt und übt nicht nur einfach, sondern erzählt von ihrem Verhältnis zu dieser Musik, von den Gefühlen, die sie dabei empfindet, von den Schwierigkeiten, die sie beim Spielen hat.

    "Was für eine seltsame Variation, diese vierte, dachte die Frau. So ein Sturm kleiner Motive, lauter eckig gebrochene Dreiklänge durcheinander. In Gegenbewegung, einander unterbrechend oder unterstreichend, fragend oder triumphierend - eine Kakophonie verwandter Stimmen. Das Notenbild sah einfach aus, doch das war Schein. Je länger sie daran ackerte, desto schwieriger wurde es, jedes kleine Fragment herauszuarbeiten."

    Die Erzählerin schreibt über die Musik nicht nur kenntnisreich, bisweilen fast pädagogisch, sondern wiederum auch so, als wären die Noten und das Klavierspiel ein Gegenüber, das sie beobachtet, mit dem sie sich streitet, vor dem sie Respekt hat, das sie aber auch liebt und verehrt. Die Kunst bekommt etwas Lebendiges, die Bach'sche Komposition wird zu einer Persönlichkeit. Für die Frau sind die Goldberg-Variationen eine Projektionsfläche und ein Medium, durch das, eingefangen in ein höchst artifizielles Gebilde, Stationen im Leben ihrer verunglückten Tochter heraufbeschwört werden, ohne dass Sentimentalität und Trauer den Blick auf die Erinnerungen stören.

    "Das Einprägen der Noten und das Entwirren der Melodien hatten ihr lädiertes Hirn in Beschlag genommen. Im Takt der Musik hatte sie jeden Tag für eine Weile unbefangen atmen können. Durch die Hintertür hatte ihr Bach Zugang zu ihrem Gedächtnis verschafft: Jede Variation hatte Erinnerungen an das Kind wachgerufen, die sie in ihr Heft notiert hatte. Argwöhnisch, denn Erinnerungen waren Lügen. Zurückhaltend, denn sie hasste Gefühlsduselei."

    Die jeweilige Form der einzelnen Variationen - ob Kanon, Fuge oder Tanzmusik wie Sarabande und Gig, ob Fingerläufe oder Dreiklangfolgen - sind maßgeblich für die durch sie evozierte Szenen aus dem Leben der Tochter. So ist jedes der 30 Kapitel in Reflexionen über die Musik und Erinnerungsbilder aus den vergangenen Jahren unterteilt. Szenen aus der Kindheit, etwa beim Tanzunterricht, aus der Pubertät, bei Streitereien mit dem Bruder, aus dem Studentenleben beim Versuch, die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, Freundschaften, Kränkungen, gemeinsame Ferien mit der Familie in Schweden, oder Momente der ersten bewussten Entfremdung von der als übermächtig empfundenen Mutter - Anna Enquist gelingt es tatsächlich durch ihre stille, beobachtende Sprache, die Erinnerungen der Frau an ihre Tochter frei von jeglicher Gefühlsduselei zu halten. Das Wiederholungsprinzip in der Bach'schen Komposition, in der gemäß dem religiösen Denken des Barockzeitalters die schicksalhafte Wiederkehr des Immergleichen gesehen werden kann, erlaubt es, dass die Mutter sich in ihren Erinnerungen außerhalb der Chronologie der Ereignisse bewegen kann.

    Es werden Geschichten aus einem Leben erzählt, nicht die Lebensgeschichte der Tochter. Dies bewirkt, dass das Bild des heranwachsenden Mädchens mehr und mehr zu erstarren droht. Abgesehen von einigen Zitaten aus der Zeitgeschichte, etwa dem Absturz einer Frachtmaschine in eine Wohnanlage in Amsterdam, dringt daher auch kaum eine außerfamiliäre Vergangenheit in den Text, den die Mutter in ihr Heft schreibt. Und da sentimentale Erinnerungen, die verfremdend wirken könnten, ferngehalten werden sollen, tauchen Emotionen nur in der Vergangenheit auf. So etwa in der 18. Variation, also im 18. Kapitel, in dem Mutter und Tochter das Schmetterlingshaus des städtischen Botanischen Gartens besuchen.

    "Die Tochter steht totenstill auf dem gepflasterten Pfad. Ihre Arme hängen an den Seiten herab, und sie hat die Augen geschlossen. Um ihr Gesicht herum fliegen große, dunkle Schmetterlinge. Violett, dunkelrot, rostbraun. Einer lässt sich auf ihrer Stirn nieder, nah am Haaransatz. Ein anderer sitzt flügelschlagend auf ihrer Wange. Die Tochter lächelt. Die Schmetterlinge bedecken ihre Hände, ihre Ohren, ihren Hals. Die Mutter spürt, dass sich ihre Augen plötzlich mit Tränen füllen. Sie hält sich am Rand eines Blumenkastens fest und blickt unverwandt auf die Tochter, die von Schmetterlingen geküsst wird."

    Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass in diesem Bild die Tochter bereits wie eine Tote gesehen wird, etwa wie eine Statue, totenstill steht sie auf dem gepflasterten Pfad, umflattert von Schmetterlingen, dem Prinzip des Lebendigen. Die Schmetterlinge liebkosen die Tochter nicht, es sieht nur so aus. Sie saugen lediglich den salzigen Schweiß von ihrer Haut, doch die Mutter interpretiert dies als küssen. Am nächsten Tag wird sie sich der Goldberg-Variation Nummer 19 zuwenden, einem liedhaften Stück, das die Tochter in einem Café schildert als Sängerin einer Band. Wieder wird ein Bild entstehen, lebhaft zwar und diesmal laut und bewegt, aber eben nur ein Bild. Die Frau wird ihre Erinnerung an die Tochter im Griff haben, dank der Bach'schen Partitur, die den vierten Teil der für seine Schüler geschriebenen Klavierübungen darstellt. Dadurch haben sie eine klare pädagogische Zielsetzung. Zugleich aber sind sie ein kompositorisches und klangliches Kunstwerk. Beides gilt auch für Anna Enquists Roman "Kontrapunkt".

    Anna Enquist: "Kontrapunkt". Roman.
    Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. München, Luchterhand-Verlag 2008. 220 S., Euro 17,95.