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Vollkommener Lesegenuss

Yoko Ogawas Protagonistinnen in dem Band "Der zerbrochene Schmetterling" wirken unschuldig und mädchenhaft. Aber hinter den zerbrechlichen Körpern, den filigranen Gesichtern tun sich Abgründe auf.

Von Simone Hamm | 17.12.2007
    Das Mädchen beobachtet den Turmspringer, wie er die Arme hochstreckt, wie er ins Wasser eintaucht, die Linie der Muskeln, die sich von den Knöcheln bis zu den Oberschenkeln zieht. Jeden Tag sitzt sie auf der Tribüne im Schwimmbad.

    "Juns geschmeidiger, gestreckter Körper taucht in mich ein, durchbricht die dünne Schicht der Gefühle und dringt bis tief ins Mark meines Ichs."

    Die Schwester sitzt am Bett des totgeweihten Bruders. Wenn sie nicht bei ihm im Krankenhaus sein kann, denkt sie Stunde um Stunde an ihn.

    "Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, ihm in meiner Erinnerung zu begegnen."

    Eine junge Frau spürt, dass sie schwanger ist. Sie horcht in ihren Körper hinein. Mehr und mehr geht sie ihrer Umwelt verloren. Sie muss sich zwingen an etwas anderes als an ihren Körper zu denken.

    "Mein Inneres kehrt langsam zu seinem ursprünglichen Zustand zurück."

    Drei Frauen aus drei Kurzgeschichten von Yoko Ogawa. "Der zerbrochene Schmetterling" heißt ihr schmaler Erzählband. Yoko Ogawas Protagonistinnen wirken unschuldig und mädchenhaft. Aber hinter den zerbrechlichen Körpern, den filigranen Gesichtern tun sich Abgründe auf.

    In "Das Schwimmbecken" ist da zunächst ein kleines Mädchen, das von der sicheren Tribüne im Schwimmbad einen Turmspringer anhimmelt. Die beiden Kinder sind gemeinsam aufgewachsen: in einem Waisenhaus, dem Garten des Lichts. Die Ich-Erzählerin Aya ist die leibliche Tochter des Ehepaars, das das Heim leitet. Sie hat ihre Eltern niemals für sich allein. Und sie ist das einzige Kind, dass das Heim niemals verlassen wird. Sie wird niemals adoptiert werden. Dafür hasst sie die anderen Kinder.

    Sie rächt sich auf ihre Weise. Als sie einmal allein mit dem Baby Ries im Waisenhaus bleibt, versteckt sie sich hinter einem Busch. Das Baby fühlt sich verlassen.

    "Ein Erwachsener hat die Möglichkeit, Unsicherheit, Einsamkeit, Furcht oder Trauer zu verbergen, aber ein Kind kann das nicht. Es kann seine Not nur in die Welt hinaus schreien. Ich wünschte mir, ihre Tränen langsam aufzulecken. Mit meiner Zunge wollte ich in Ries unglückliches Herz fahren, um ihre Schmerzen noch zu steigern."

    Und Aya steigert Ries' Schmerzen, steckt sie in einen großen, tönernen Topf, gibt ihr verdorbenen Kuchen zu essen. Wenn sie Jun begegnet, ist sie eine andere.

    "Wenn ich mit Jun zusammen war, gab ich mir immer den Anschein der Unschuld ... Denn Jun würde nur in reines, klares Wasser springen. Ich wollte, dass er fehlerlos in mich eintauchte."

    Was Aya nicht ahnt, ist, dass Jun sie längst durchschaut hat. Das auch er vertraut ist mit dem Spiel von Unschuld und Grausamkeit. Einer Grausamkeit, die Tod bringend sein könnte. Jun hat Aya niemals aus den Augen gelassen.

    "Jun legte mein Geheimnis bloß, wie man eine Liebeserklärung macht."

    Es sind Formulierungen wie diese, die den Reiz und die große Faszination der Kurzgeschichten Yoko Ogawas ausmachen. Ein Geheimnis bloßlegen, wie man eine Liebeserklärung macht. Ihre Sprache ist stets klar, fast puristisch. Der Plot ihrer Erzählungen ist ungeheuerlich - und eben nur zu ertragen, weil Yoko Ogawas Sprache so kühl, so genau ist. Dabei sind ihre Formulierungen ebenso ungewöhnlich wie einprägsam, die Metaphern neu und nie gelesen.

    "Der zerbrochene Schmetterling" heißt die Geschichte von einer jungen Frau, die spürt, dass sie schwanger ist. Sie hat ihre demente Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, in ein Heim mit dem schönen Namen "neue Welt" gebracht. Sie ist ein ungeliebtes Kind. Die Mutter hat sie verlassen. Die betenden Hände der Großmutter haben sie stets zurückgewiesen.

    Die junge Frau spürt, dass sie schwanger ist. Noch kann sie sich an die Vorstellung, die Zeit, die Sprache, das Atmen, den Appetit, das Seufzen eines anderen Menschen in sich zu spüren, nicht gewöhnen. Sie fühlt sich unrein. Ihrem Freund erzählt sie nichts. Für ihn will sie das Geräusch der Stadt finden, das Geräusch eines zerbrochenen Schmetterlings.

    "Der Flügelstaub rieselt langsam herab, haftet an meinen Schleimhäuten, löst sich wieder davon, bis er schließlich das Organ erreicht, in dem das Baby leise atmet. Kann man das Geräusch in mir hören? Dieses trügerische Geräusch, das nie aufhört?"

    Yoko Ogawa zeigt die tiefe Verstörung einer Frau, die schwanger ist oder schwanger zu sein glaubt, die Grund hat oder keinen Grund hat, eifersüchtig zu sein. Die nicht weiß, ob es die richtige Entscheidung war, die Großmutter in ein Pflegeheim gebracht zu haben. Kein dieser Fragen beantwortet Yoko Ogawa, und jede Antwort wäre möglich. So bleibt auch der Leser verstört zurück.

    Yoko Ogawa entwickelt ihre Geschichten ganz langsam. In "Das vollkommene Krankenzimmer" besucht eine junge Frau ihren jüngeren Bruder tagtäglich im Krankenhaus. Er hat nicht mehr lange zu leben. Das Waisenhausmotiv und das des Schwimmers kehren auch in dieser Geschichte wieder. Die Schwester betrachtet den muskulösen Arzt und stellt ihn sich im Schwimmbad vor, glänzend vom Wasser. Der Arzt ist als Heimleiterkind in einem Waisenhaus aufgewachsen. Anders als Aya aus der ersten Geschichte, versteht er es zu trösten, mehr noch als Krankheiten zu heilen. Die Ich-Erzählerin liebt das Krankenzimmer, dessen perfekte Reinheit.

    "Während ich diese Atmosphäre von steriler Reinheit genoss, fraß sich die Krankheit unaufhaltsam in den Körper meines Bruders... Je häufiger er sich übergab, desto durchsichtiger wurde seine blasse Haut. Er wurde zunehmend geruchlos. Ganz allmählich schien er von der Reinheit des Krankenzimmers absorbiert zu werden."

    So wird der Bruder zum idealen Objekt der reinen Liebe. Sex hat die Gefühle der Ich-Erzählerin immer belastet. Sie glaubte,, in einen Wettstreit von Gefälligkeiten zu geraten. Das Verlangen nach dem Bruder im Krankenzimmer ist ein anders. Hier wird nicht aufgerechnet. Hier gibt es keinen Schmutz. Sie wünscht sich, dass es ewig so weiterginge. Nie hat sie den Bruder so geliebt. Bevor er krank wurde, war er nichts als der kleine Bruder. Nie hat sie eine solch verzehrende Sehnsucht gespürt. Eine Sehnsucht im Angesicht des Todes. Schmerzlich sind die Momente, in denen dies in ihr Bewusstsein kommt.

    "Ich weinte so sehr, dass ich fast zerfloss. Dabei war mir, als würde ich den transparenten Klang vernehmen, mit dem die vom Himmel schwebenden Schneekristalle und die gefrorene Luft sich aneinander rieben."

    Die reine Liebe im perfekten Krankenzimmer, die teuflischen Quälereien im Waisenhausgarten, die pausenlosen Gedanken an ein ungeborenes Kind liegen im Verborgenen. Ein flüchtiger Betrachter sähe nichts ein junges Mädchen, das auf ein greinendes Baby aufpasst, eine Frau, die ihren Freund durch die Strassen der Großstadt begleitet, eine Schwester, die sich rührend um ihren Bruder kümmert.

    Yoko Ogawa reißt die Fassaden nicht ein. Sie zeigt deren Brüchigkeit, die Liebe, den Ekel, den Hass hinter perfektem Betragen. Die Angst hinter der Förmlichkeit. Die verhaltene Leidenschaft, die sich ungeahnte Wege bahnt. Diese Leidenschaft kann grausam werden, verbrecherisch oder zur völligen Selbstaufgabe führen.

    Yoko Ogawa dringt tief ins Unbewusste ihrer Protagonisten ein. Sie zeigt die Brüchigkeit des Lebens als solchem. Das Zusammenbrechen der Träume. Der Schwimmer mit seinem Wissen um die dunklen Seiten Ayas wird sie niemals respektieren, niemals lieben. Der zerbrochene Schmetterling wird augenblicklich zu Staub. Der Bruder stirbt und mit ihm auch die reine Liebe.

    Und das alles, den Schmerz und das Grauen, die Liebe und den nahenden Tod beschreibt Yoko Ogawa wunderbar klar und sehr poetisch. Das macht die Lektüre so verstörend und zugleich zu einem vollkommenen Genuss.


    Yoko Ogawa: Der zerbrochene Schmetterling
    Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München
    192 Seiten 18,90 Euro